»Hilke, es war deine letzte Chance, du hättest auf keinen Fall abbrechen dürfen! Jetzt fängt doch alles wieder von vorn an!«
Aha, die Hilke hatte eine Entziehungskur nicht durchgehalten, sie war geflüchtet. Hinten im Flur sah man übrigens zwei unausgepackte Reisetaschen. Ich hatte großes Mitleid mit Witold, eine solche Frau hatte er nicht verdient, der Ärmste. Sie hatte den Haushalt verkommen lassen, Mann und Kinder nicht versorgt! Mir wurde Witolds Unglück allmählich richtig klar.
Obgleich es Hochsommer war, fror ich unter den feuchten Apfelbäumen. Wieder kroch ich einen Meter näher. Ein Apfel fiel durch knackende Äste zu Boden. Witold und Hilke schienen dem Geräusch sekundenlang nachzulauschen, aber dann redeten, rauchten, tranken sie weiter. Ich hatte solche Szenen bisher nur im Film gesehen. Beide packten aus, beschuldigten sich, zerfleischten sich, haßten sich abgrundtief.
Sie nannte ihn »Rainer«, das war mir sehr recht, für mich war er »Witold«.
Lang hatte ich gelauscht und versucht, mein schepperndes Herz nicht zu laut werden zu lassen, damit die beiden im Wohnzimmer es nicht wie eine Bombe ticken hörten. Witold wanderte nach seiner Gewohnheit manchmal quer durchs Zimmer und warf einmal den glühenden Zigarettenstummel durch die offene Tür in den Garten; ganz in meiner Nähe ging er nieder, und ich befürchtete schon, das Glimmen könnte stärker werden und mich sichtbar machen. Die Zigarette erlosch, und ich beschloß, nun zu gehen. Trotz der großen Aufregung war ich sehr müde, schließlich war es recht spät.
Gerade als ich mich umdrehen wollte, schrie Hilke plötzlich laut: »Dann bring’ ich uns beide um!« und zog einen Revolver aus der Jackentasche. Ich fiel vor Schreck aufs rechte Knie und tat mir ziemlich weh. Um Gottes willen, war sie verrückt geworden! Ich wollte hervorstürzen und mich vor Witold stellen. Er war aber schon mit zwei großen Schritten bei ihr und nahm ihr das Ding einfach ab. Sie ließ es widerstandslos geschehen.
Nun ging ich doch nicht heim. Alles fing nach vielleicht fünfminütigem Schweigen, während dem sich beide nur angewidert anblickten, wieder von vorn an. Witold saß auf dem Sofa, den Revolver in der Hand. Woher sie ihn überhaupt hatte, schien ihn nicht weiter zu interessieren. Es ging wieder um Vergangenes, um andere Männer, andere Frauen, um die Schwiegermutter und die Söhne, um Geld, ja auch um dieses weinbewachsene Haus. Ich konnte das meiste nicht kapieren, weil ich die Vorgeschichte nicht kannte. Aber plötzlich sagte Hilke eiskalt und schneidend: »Wenn ich nicht mit ihm geschlafen hätte, wäre deine Scheiße nie gedruckt worden.«
Witold wurde leichenblaß.
Er hob den Revolver und schoß auf sie. Der Knall riß mich hoch, ich rannte ins volle Licht auf die Terrasse. Hilke kippte um, verdrehte die Augen, Blut quoll aus ihrer grünen Bluse.
Witold war sofort bei ihr, schrie auf sie ein, rannte ans Telefon, hielt wieder inne, nahm das Telefonbuch, blätterte, stellte fest, daß er keine Brille griffbereit hatte, fluchte, sah wieder zu der blutenden Frau und schien den Verstand zu verlieren.
Ich betrat das Zimmer. Es schien ihn überhaupt nicht zu verwundern.
»Schnell, rufen Sie einen Arzt«, sagte er kreidebleich und taumelte auf einen Stuhl. Ich machte ihm eine Zigarette an, drückte ihm das Glas in die Hand.
»Ich kümmere mich jetzt um alles«, sagte ich so ruhig, wie ich konnte. Er sah mich mit einem leeren Ausdruck an, als schwimme er unter einer dicken Glasglocke, trank und rauchte nicht. Unter Schock, dachte ich. Dann sah ich nach der Frau.
Fahl die Haut, kein hörbarer Atem. Wie in einer Großaufnahme sah ich, daß sich ihr Schmuck aus Koralle, Silber und Perlmutt jetzt nicht mehr von einem grünen Untergrund, sondern von der gänzlich durchgebluteten, dunkelglänzenden Bluse abhob.
»Ihre Frau ist tot«, sagte ich. Er stöhnte laut auf.
»Die Polizei«, preßte er heraus und wies mit dem Weinglas aufs Telefon. Ich ging auf den Apparat zu. Nein, das kannst du nicht machen, fuhr es mir durch den Kopf, er wird verurteilt, jetzt, wo wir uns gerade erst kennenlernen. Er kommt für Jahre ins Gefängnis!
»Sie müssen es anders machen«, sagte ich. »Sie kriegen ja lebenslänglich für Mord, es muß wenigstens als Totschlag gelten.«
Er sah mich wieder hilflos an und würgte plötzlich.
»Haben Sie Schnaps im Haus?« fragte ich, denn ich hatte schon wiederholt gelesen, daß eine Tat im Vollrausch nicht als geplant und vorsätzlich gelten kann. Er tappte nach dem Schrank, griff nach einer angebrochenen Flasche Whisky und hielt sie mir hin.
»Jetzt passen Sie mal gut auf«, sagte ich und bemühte mich, recht suggestiv zu wirken, »trinken Sie jetzt die ganze Flasche leer. Wenn Sie zu Boden gehen und das Bewußtsein verlieren, rufe ich zehn Minuten später die Polizei an. Sie sagen beim Verhör, daß Sie sich an nichts mehr erinnern können.«
Witold wollte widersprechen, trotz Schockzustand schien ihm irgend etwas an diesem Plan nicht logisch oder nicht anständig zu sein. Er sagte mehrmals »aber« und setzte dann die Flasche an. Irgendwie schien ihm die Vorstellung, gleich benebelt am Boden zu liegen und für Stunden aus dem Verkehr gezogen zu sein, noch eine der besten Möglichkeiten. Er trank und trank, würgte dazwischen, und ich hatte große Angst, er würde gleich alles wieder von sich geben.
In fünf Minuten, in denen wir uns nur ansahen, trank er den ganzen Whisky aus. Ich legte meine Hand auf seine. »Alles wird wieder gut«, sagte ich mütterlich. Er grinste plötzlich wie ein zurückgebliebenes Kind und hatte das abrupte Bedürfnis, sich auf den Teppich zu legen.
So, was nun. Jetzt also die Polizei, dachte ich. Da hörte ich hinter mir einen röchelnden Ton. Mir stockte das Blut in den Adern. Ich drehte mich um: Hilke bewegte sich, wimmerte, lebte. Das durfte nicht sein, Witold mußte für immer von ihr befreit werden. Ich nahm den Revolver, er lag direkt vor mir auf dem Couchtisch, ging zur Balkontür, zielte aufs Herz, schoß — und traf sie am Kopf. Sie sackte zusammen. Witold stöhnte auf, aber er hatte nichts verstanden.
Sofort war mir klar, daß ich einen Fehler gemacht hatte. Ein zweites Mal schießen, wenn man beim ersten Mal nicht getroffen hat, das wirkt nicht mehr wie Totschlag im Affekt.
Jetzt mußte es also nach Notwehr aussehen, schließlich hatte Hilke ja auch zuerst feuern wollen. Ich mußte von ihrem Sitzplatz aus in Witolds Richtung schießen.
Nun wurde ich aber langsam hysterisch, ich hatte auf einmal nur noch das panische Bedürfnis wegzulaufen. Aber es mußte sein. Ich stellte mich an Hilkes Stuhl und schoß neben Witolds Bein auf den Teppich. Witold schrie und ächzte wieder auf, und nun sah ich, daß sein Bein blutete. Ich mußte ihn getroffen oder gestreift haben. Ich schob das Hosenbein hoch, aber Gott sei Dank — das war nur eine Bagatelle, da brauchte ich mich weiter nicht drum zu kümmern.
Ob jemand die Schüsse gehört hatte? Witolds Haus lag ja zum Glück etwas abseits, nebenan das freie Grundstück, die anderen Nachbarn im Urlaub. Aber wirklich alle? Ich mußte schleunigst weg. Ich verließ das Haus durch die Terrassentür, kroch wieder durch die Apfelbäume. Stop! sagte ich mir plötzlich. Fingerabdrücke! Was hatte ich eigentlich angefaßt?
Ich ging wieder zurück. Klar, die Waffe, das Glas, den Witold.
Revolver und Glas steckte ich in meine Handtasche, ich hatte jetzt einfach nicht mehr die Kraft, beides blankzupolieren. Ich rannte fast weg. Ob mich irgend jemand gesehen hatte?
Endlich war ich beim Auto, stieg ein und fuhr am ganzen Leibe zitternd los. Ich hatte das dumpfe Gefühl, daß ich alles von Grund auf falsch gemacht hatte. Dann fiel mir ein, daß ich ja unbedingt die Polizei anrufen mußte, ich hatte es Witold versprochen.
Ich hielt an einer Telefonzelle, die ich schon gut kannte. Der Notruf stand glücklicherweise gut sichtbar vorn im Telefonbuch, mir wäre im Augenblick selbst meine eigene Nummer nicht eingefallen. Mit einer mir ganz fremden Stimme hörte ich mich sagen: »Ich habe soeben Schüsse gehört…« Man unterbrach mich sofort, wollte zuerst meinen Namen und meine Anschrift wissen. Ich antwortete aber nicht darauf, sondern schrie: »Fahren Sie sofort hin«, nannte Witolds Adresse und legte auf. Ich stieg eilig ins Auto und fuhr heim.