Caramon biß voller Schmerz die Zähne zusammen, ergriff die Krücke und rappelte sich auf. Tolpan folgte langsamer und sah immer noch flehend zu Caramon hoch.
»Verstehst du, Tolpan, ich habe Raistlin jetzt erkannt«, fuhr Caramon fort, ohne auf die kummervolle Miene des Kenders zu achten. »Zu spät vielleicht, aber ich habe ihn jetzt durchschaut. Er haßte den Turm, so wie er dessen Magier haßte für alles, was sie ihm angetan haben. Aber so wie er den Turm haßte, so liebte er ihn gleichzeitig – weil der einen Teil seiner Kunst darstellt, Tolpan. Und seine Kunst, seine Magie, bedeutet ihm mehr als das Leben selbst. Nein, der Turm wird noch stehen.«
Caramon hob das Gerät in seinen Händen und begann den Vers aufzusagen: »Deine Zeit gehört dir allein, auch wenn du quer durch sie reist...«
Aber er wurde unterbrochen.
»O Caramon!« plärrte Tolpan und umklammerte ihn. »Bring mich nur nicht zurück zu Par-Salian! Er wird etwas Schreckliches mit mir anstellen! Ich weiß das! Er wird mich in eine... eine Fledermaus verwandeln!« Tolpan hielt inne. »Und selbst wenn ich glauben könnte, daß es interessant ist, eine Fledermaus zu sein, bin ich mir nicht sicher, ob ich mich daran gewöhnen kann, verkehrt herum zu schlafen, nur an meinen Füßen hängend. Und ich bin liebend gern ein Kender, fällt mir jetzt ein, wenn ich darüber nachdenke, und...«
»Was redest du da überhaupt?« Caramon funkelte ihn an und sah hastig zu den Sturmwolken hoch. Der Regen nahm an Stärke zu, und die Blitze schlugen immer näher ein.
»Par-Salian!« schrie Tolpan hektisch. »Ich... ich habe seinen magischen Zeitreisezauber durcheinandergebracht! Ich sollte nicht mitkommen! Und dann habe ich einen magischen Ring gestoh... äh... gefunden, den jemand liegengelassen hatte, und mich damit in eine Maus verwandelt! Ich bin mir sicher, daß er darüber noch immer ziemlich sauer ist! Und dann habe ich... das magische Gerät zerbrochen, Caramon. Erinnerst du dich! Also, es war zwar nicht direkt meine Schuld, Raistlin ließ es mich zerbrechen! Aber eine wirklich strenge Person könnte die unglückselige Einstellung haben, daß das alles nicht passiert wäre, wenn ich von vornherein die Finger davon gelassen hätte – schließlich wußte ich auch, daß ich das hätte tun sollen. Und Par-Salian scheint eine schrecklich strenge Person zu sein, findest du nicht? Und obgleich ich Gnimsch veranlaßt habe, es zu reparieren, hat er es nicht richtig repariert, weißt du...«
»Tolpan«, murmelte Caramon müde, »halt den Mund.«
»Ja, Caramon«, antwortete Tolpan ergeben und begann zu schniefen.
Caramon sah unter den hellen Blitzen auf die kleine Gestalt, die niedergeschlagen neben ihm kauerte, und seufzte. »Sieh mal, Tolpan. Ich werde es doch nicht zulassen, daß Par-Salian dir etwas antut. Das verspreche ich dir. Zuerst muß er mich in eine Fledermaus verwandeln.«
»Wirklich?« fragte Tolpan eifrig.
»Mein Wort«, sagte Caramon mit einem Blick auf den Sturm. »Jetzt gib mir deine Hand und laß uns hier verschwinden.«
»Sicher«, rief Tolpan fröhlich und steckte seine kleine Hand in Caramons Riesenpranke.
»Und, Tolpan...«
»Ja, Caramon?«
»Dieses Mal – denk bitte an den Turm der Erzmagier in Wayreth! Keine Monde!«
»Ja, Caramon«, murmelte Tolpan mit einem tiefen Seufzer. Dann lächelte er wieder. »Weißt du«, flüsterte er, während Caramon schon wieder seinen Vers aufsagte. »Ich wette, Caramon, du wirst eine Mordsfledermaus abgeben...«
Sie fanden sich am Rand eines kleinen Waldes wieder.
»Es ist nicht meine Schuld, Caramon!« kreischte Tolpan. »Ich habe mit meinem ganzen Herzen und meiner ganzen Seele an den Turm gedacht. Ich habe bestimmt keine Sekunde an einen Wald gedacht.«
Caramon musterte aufmerksam die Bäume. Es war immer noch Nacht, aber der Himmel war klar, obgleich noch immer Sturmwolken am Horizont sichtbar waren. Lunitari brannte in einem matten Rot. Solinari ließ sich in den Sturm fallen. Und über ihnen glühte das Stundenglas.
»Naja, die Zeitperiode ist jedenfalls richtig. Aber wo im Namen der Götter sind wir?« brummte Caramon, stützte sich auf seine Krücke und funkelte gereizt das magische Gerät an. Sein Blick glitt zurück zu den dunklen Bäumen, deren Stämme im hellen Mondschein schimmerten. Plötzlich glättete sich sein Gesicht. »Es ist in Ordnung, Tolpan«, sagte er erleichtert. »Erinnerst du dich nicht? Das ist der Wald von Wayreth – der magische Wald, der den Turm der Erzmagier bewacht!«
»Bist du dir sicher?« fragte Tolpan voller Zweifel. »Er sieht aber nicht so aus wie beim letzten Mal, als ich hier war. Damals war alles häßlich, und diese toten Bäume, die da lauerten und mich anstarrten, als ich versuchte hineinzugehen, haben mich nicht durchgelassen, und als ich versuchte, den Wald zu verlassen, haben sie mich auch wieder festgehalten und...«
»Er ist es«, murmelte Caramon, faltete das Zepter zurück in einen unscheinbaren Anhänger.
»Was ist dann aber mit ihm passiert?«
»Das Gleiche, was mit der ganzen Welt passiert ist, Tolpan«, erwiderte Caramon und ließ behutsam den Anhänger in seinen Lederbeutel gleiten.
Tolpans Gedanken wanderten zurück zu jenen Tagen, als er das letzte Mal den magischen Wald von Wayreth gesehen hatte. Es war ein seltsamer und unheimlicher Ort, der die Aufgabe hatte, den Turm der Erzmagier vor unwillkommenen Eindringlingen zu schützen. Erstens fand niemand den magischen Wald – denn dieser fand die Person, die ihn suchte. Und er hatte damals Tolpan und Caramon gefunden, gleich nachdem Lord Soth den Todeszauber auf Crysania geworfen hatte. Tolpan war aus tiefem Schlaf erwacht und hatte festgestellt, daß auf einmal ein Wald dort stand, wo in der Nacht kein Wald gewesen war!
Die Bäume hatten damals tot ausgesehen. Ihre Zweige waren nackt und verdreht, ein eisiger Nebel schwebte an ihren Stämmen hinauf. In seinem Inneren wohnten dunkle und schattige Formen. Aber die Bäume waren nicht tot gewesen. Gewiß hatten sie die unheimliche Angewohnheit, einer Person zu folgen. Tolpan erinnerte sich daran, wie er versucht hatte, aus dem Wald zu entkommen, aber gleichgültig, in welche Richtung er sich bewegt hatte, immer war er wieder in den Wald hineingelaufen.
Das war schon gespenstisch genug gewesen, aber als Caramon in den Wald gelaufen war, hatte der sich von Grund auf verändert. Die toten Bäume hatten zu wachsen begonnen und sich zu Vallenholzbäumen entwickelt! Der Wald hatte sich von einem dunklen und abstoßenden und vom Tod erfüllten Gehölz in einen wunderschönen, grünen und goldenen, mit Leben erfüllten Hain verwandelt. Vögel sangen süß in den Zweigen der Vallenholzbäume und luden zum Eintreten ein.
Und jetzt hatte der Wald schon wieder eine Verwandlung durchgemacht. Tolpan starrte ihn verwirrt an. Die Bilder schienen sich nun vermischt zu haben – und doch fand er keine seiner Erinnerungen vollständig wieder. Die Bäume wirkten tot, ihre verbogenen Zweige waren kahl und nackt. Aber als er sie näher betrachtete, schien es Tolpan, als ob sie sich geheimnisvoll bewegten, als ob sie lebendig wären! Sie langten hinaus wie greifende Arme...
Er drehte dem gespenstischen Wald von Wayreth den Rücken zu und beäugte seine Umgebung. Alles andere war genauso wie in Solace. Hier wuchsen keine Bäume mehr. Er war lediglich von geschwärzten, zerfetzten Stümpfen umgeben. Der Boden war mit dem gleichen glitschigen, grauen Schlamm überzogen. So weit er sehen konnte, gab es nichts weiter als Verwüstung und Tod...
»Caramon«, schrie Tolpan plötzlich und deutete auf einen Baumstumpf.
Caramon wandte sich in die angegebene Richtung. Dort drüben lag eine zusammengekauerte Gestalt.
»Eine Person!« schrie Tolpan in wilder Aufregung. »Hier ist doch noch jemand!«
»Tolpan!« rief Caramon warnend, aber bevor er ihn aufhalten konnte, war der Kender weggeflitzt.