Der uralte Zauberer hob sein angespanntes, hageres Gesicht, wandte den Kopf und starrte mit entsetztem Ausdruck aus den Fenstern. »Das ist das Ende«, murmelte er, und seine schwieligen, abgezehrten Hände griffen schwach in die Luft. »Das Ende aller Dinge.«
»Ja«, stimmte Astinus zu, der verärgert seine Stirn runzelte, weil er wegen des plötzlichen Schlingerns des Turmes einen Fehler gemacht hatte. Er griff fester um sein Buch, seine Augen auf das Portal gerichtet, und schrieb und zeichnete die letzte Schlacht auf, so wie sie sich ereignete.
Innerhalb weniger Augenblicke war alles vorüber. Das weiße Licht flackerte eine Sekunde wunderschön auf. Dann erstarb es. Das Portal war wieder mit Dunkelheit erfüllt.
Par-Salian weinte. Seine Tränen fielen auf den Steinboden, und unter ihrer Berührung erbebte der Turm wie ein Lebewesen, als ob auch er seinen Untergang voraussähe und vor Entsetzen schauderte.
Ohne auf die herabfallenden Steine und die sich aufbäumenden Felsen zu achten, schrieb Astinus kühl die letzten Worte: »Am vierten Tag im fünften Monat des Jahres 358 endet die Welt.«
Dann wollte Astinus mit einem Seufzer das Buch schließen.
Doch eine Hand schlug die Seiten wieder auf.
»Nein«, sagte eine entschlossene Stimme, »sie wird jetzt nicht enden.«
Astinus’ Hände zitterten, und sein Federhalter ließ einen Tintenklecks auf das Papier fallen, der die letzten Worte auslöschte.
»Caramon... Caramon Majere!« schrie Par-Salian und streckte mitleiderregend seine schwachen Hände dem Mann entgegen. »Du also warst es, den ich im Wald gehört habe!«
»Hast du an mir gezweifelt?« knurrte Caramon. Obgleich er schockiert und entsetzt war über den Anblick des erbarmungswürdigen Zauberers und seiner Qual, fand er es schwierig, Mitgefühl für den Erzmagier zu empfinden. Als er Par-Salian ansah, dessen untere Hälfte in Marmor verwandelt war, erinnerte er sich nur allzu deutlich an die Qualen seines Bruders im Turm und an seine eigenen Qualen, als er mit Crysania nach Istar zurückgeschickt wurde.
»Nein, ich habe nicht an dir gezweifelt!« Par-Salian rang seine Hände. »Ich habe an meiner eigenen geistigen Gesundheit gezweifelt! Kannst du das nicht verstehen? Wie kannst du überhaupt hier sein? Wie kannst du die magischen Schlachten überlebt haben, die die Welt zerstörten?«
»Er hat sie nicht überlebt«, erklärte Astinus streng. Nachdem er seine Beherrschung wiedergewonnen hatte, legte er das offene Buch vor seinen Füßen auf den Boden und erhob sich. Wütend funkelte er Caramon an und zeigte mit anklagendem Finger auf ihn. »Was ist das für ein Trick? Du bist gestorben! Was soll das bedeuten...«
Ohne ein Wort zu sagen, zog Caramon Tolpan hinter sich hervor. Tief beeindruckt von der Feierlichkeit und dem Ernst der Situation, kuschelte sich Tolpan eng an ihn, seine aufgerissenen Augen mit flehendem Blick auf Par-Salian gerichtet.
»Möchtest... möchtest du, daß ich es erkläre, Caramon?« fragte Tolpan mit leiser, höflicher Stimme, kaum hörbar über dem Donner. »Ich... ich habe wirklich das Gefühl, daß ich erklären sollte, warum ich den Zeitreisezauber beeinträchtigt habe, und dann ist da noch die Sache, daß mir Raistlin die falschen Anweisungen gab und mich das magische Gerät zerbrechen ließ, obgleich es teilweise meine Schuld war, vermute ich, und wie ich in der Hölle geendet habe, wo ich den armen Gnimsch kennenlernte.« Tolpans Augen füllten sich mit Tränen. »Und wie Raistlin ihn getötet hat...«
»All das ist mir bekannt«, unterbrach ihn Astinus. »Wegen des Kenders warst du also in der Lage, hierher zu gelangen. Unsere Zeit ist knapp. Was ist dein Begehr, Caramon Majere?«
Der große Mann wandte sich an Par-Salian. »Ich empfinde keine Liebe für dich, Zauberer. In dieser Hinsicht bin ich eins mit meinem Zwillingsbruder. Vielleicht hattest du deine Gründe dafür, was du mir und Crysania angetan hast, als du uns nach Istar schicktest. Wenn ja« – Caramon hob seine Hand, um Par-Salian aufzuhalten, der anscheinend etwas erwidern wollte – »wenn ja, dann bist du es, der damit leben muß, nicht ich. Denn wisse, daß ich jetzt über die Macht verfüge, die Zeit zu ändern. So wie Raistlin mir sagte, wegen des Kenders können wir alles verändern, was geschehen ist... Ich habe das magische Gerät. Ich kann zu jedem Punkt in der Zeit zurückreisen. Sage mir, wann und was geschehen ist und wie es zu dieser Zerstörung gekommen ist, und ich werde es in die Hand nehmen, sie zu verhindern, wenn mir das möglich ist.«
Caramons Blick glitt von Par-Salian zu Astinus. Der Historiker schüttelte den Kopf. »Sieh mich nicht an, Caramon Majere. Ich bin darin wie auch in allen anderen Dingen neutral. Ich kann dir keine Hilfe geben. Ich kann dir nur diese Warnung geben: Du kannst wohl zurückkehren, aber vielleicht findest du lediglich heraus, daß du nichts verändern kannst. Ein Kieselstein in einem schnell fließenden Fluß, das ist vielleicht alles, was du bist.«
Caramon nickte. »Wenn das alles ist, dann werde ich zumindest mit dem Wissen sterben, daß ich versucht habe, mein Versagen wiedergutzumachen.«
Astinus musterte Caramon mit einem scharfen, durchdringenden Blick. »Welches Versagen meinst du, Krieger? Du hast dein Leben riskiert, um deinem Bruder zu folgen. Du hast dein Bestes getan, du hast dich bemüht, ihn zu überzeugen, daß dieser Weg der Dunkelheit, den er gewählt hat, nur zu seinem eigenen Untergang führen wird.« Astinus zeigte zum Portal. »Hast du gehört, wie ich zu ihm gesprochen habe? Du weißt, was ihn erwartet?«
Caramon nickte wieder wortlos, sein Gesicht war blaß und gequält.
»Dann sag es mir«, sagte Astinus kühl.
Der Turm schwankte. Wind schlug gegen die Mauern, Blitze verwandelten die schwindende Nacht der Welt in einen grellen, blendenden Tag. Das kleine, kahle Turmzimmer, in dem sie standen, erbebte und zitterte. Obwohl sie allein in diesem Raum waren, glaubte Caramon, ein Weinen zu hören, und allmählich wurde ihm bewußt, daß es die Steine des Turmes selbst waren. Er sah sich um.
»Du hast Zeit«, sagte Astinus. Er setzte sich wieder auf seinen Schemel und nahm sein Buch in die Hände. Aber er schloß es nicht. »Vielleicht nicht lange, aber du hast noch Zeit. Wobei hast du versagt?«
Caramon holte zitternd Luft. Dann zogen sich seine Brauen zusammen. Zorn verfinsterte seinen Blick, als er sich an Par-Salian wandte: »Ein Trick, nicht wahr, Zauberer? Ein Trick, um mich dazu zu bringen, was ihr Magier nicht vermochtet – Raistlin in seinem entsetzlichen Vorhaben aufhalten. Aber ihr habt versagt. Du hast Crysania zum Sterben zurückgeschickt, weil ihr Angst vor ihr hattet. Aber ihr Wille und ihre Liebe waren stärker, als ihr angenommen habt. Sie blieb am Leben, und blind durch ihre Liebe und ihre Wünsche folgte sie Raistlin in die Hölle. Ich verstehe Paladin nicht, der ihre Gebete erhörte und ihr die Macht verliehen hatte, dorthin zu gehen...«
»Es ist dir nicht bestimmt, die Wege der Götter zu verstehen, Caramon Majere«, unterbrach ihn Astinus nüchtern. »Wer bist du, daß du über sie urteilen willst? Es mag wohl sein, daß auch sie zuweilen versagen. Oder daß sie sich entscheiden, das Beste zu riskieren, getrieben von der Hoffnung, daß es noch besser wird.«
»Auf jeden Fall«, fuhr Caramon fort, das Gesicht düster und kummervoll, »haben die Magier Crysania zurückgeschickt und gaben somit meinem Bruder einen der Schlüssel, die er zum Betreten des Portals benötigte. Sie haben versagt. Die Götter haben versagt. Und ich habe versagt!« Caramon fuhr mit einer zitternden Hand durch sein Haar.
»Ich dachte, ich könnte Raistlin mit Worten überzeugen, sich von dem tödlichen Weg abzuwenden, auf dem er sich befand. Ich hätte es besser wissen müssen.« Der große Mann lachte bitter. »Haben meine Worte jemals etwas bei ihm bewirkt? Als er vor dem Portal stand und bereit war, die Hölle zu betreten, als er mir sagte, was er beabsichtigte, verließ ich ihn. Es war alles so einfach. Ich habe mich einfach umgedreht und bin weggegangen.«