Выбрать главу

»Gibt es Neuigkeiten über sie?« fragte er leise.

»Es tut mir leid, Tanis«, antwortete Elistan sanft. »Ich wollte dich nicht beunruhigen. Du mußt endlich aufhören, dir die Schuld zu geben. Was sie tat, entschied sie aus ihrem freien Willen heraus. Ich hätte mich auch nicht anders verhalten. Du hättest sie nicht aufhalten und nicht vor ihrem Schicksal bewahren können – welches auch immer es ist. Nein, es gibt keine Neuigkeiten über sie.«

»Doch«, widersprach Dalamar mit kalter, gefühlloser Stimme und zog sofort die Aufmerksamkeit beider Männer im Zimmer auf sich. »Das ist ein Grund, warum ich euch zusammenrief...«

»Du hast uns zusammengerufen?« wiederholte Tanis und erhob sich wieder. »Ich dachte, Elistan hätte uns hergebeten. Steckt dein Meister dahinter? Ist er für das Verschwinden der Frau verantwortlich?« Er trat einen Schritt vor, und sein Gesicht hinter dem rötlichen Bart lief rot an. Auch Dalamar stand jetzt auf. Seine Augen glitzerten gefährlich, und seine Hand glitt fast unmerklich in einen der Beutel, die er am Gürtel trug. »Bei den Göttern, falls er ihr etwas angetan hat, werde ich seinen goldenen Hals umdrehen...«

»Astinus von Palanthas«, verkündete ein Kleriker an der Tür.

Der Historiker stand im Türrahmen. Sein zeitloses Gesicht war bar jeden Ausdrucks, während seine grauen Augen durch den Raum fuhren und alles und jeden mit peinlich genauer Aufmerksamkeit bis ins kleinste Detail aufnahmen, damit sein Federhalter das alles später festhalten konnte. Sein Blick wanderte zu Tanis’ gerötetem, zornigem Gesicht, zu den stolzen, trotzigen Zügen des Elfen und schließlich zu der erschöpften, geduldigen Miene des sterbenden Klerikers.

»Laßt mich raten«, sagte Astinus, trat gelassen ein und nahm Platz. Er legte ein riesiges Buch auf den Tisch und öffnete es bei einer leeren Seite, nahm dann einen Federhalter aus einer Holzschachtel, die er bei sich trug, untersuchte sorgfältig die Spitze und sah schließlich auf. »Tinte, Freund«, sagte er zu einem eingeschüchterten Kleriker, der – nach einem Nicken von Elistan – eilig das Zimmer verließ. Dann setzte der Historiker seinen Satz fort: »Laßt mich raten. Ihr habt über Raistlin Majere geredet.«

»Das stimmt«, sagte Dalamar. »Ich habe euch hergebeten.«

Der Dunkelelf nahm wieder seinen Platz am Feuer ein. Tanis, immer noch mit finsterem Blick, ging zu seinem Stuhl neben Elistan zurück. Der Kleriker Garad, der mit Tinte für Astinus zurückgekehrt war, fragte nach weiteren Wünschen. Nach einer abschlägigen Antwort verließ er das Zimmer, nachdem er streng darauf hingewiesen hatte, daß Elistan krank sei und nicht lange gestört werden dürfe und Rücksichtnahme auch im Interesse der Anwesenden sei.

»Ich habe euch hergebeten, euch alle«, wiederholte Dalamar, während sein Blick auf das Feuer gerichtet blieb. Dann hob er den Kopf und sah direkt Tanis an. »Dein Kommen war für dich eine kleine Unbequemlichkeit. Aber mein Kommen geschah in dem Wissen, daß ich die Qual meines ganzen Glaubens erleide, wenn ich mich auf diesen heiligen Boden begebe. Aber es ist unumgänglich, daß ich mit euch allen spreche, mit euch allen zusammen. Ich wußte, daß Elistan nicht zu mir kommen konnte. Ich wußte, daß Tanis, der Halb-Elf, nicht zu mir kommen würde. Und so blieb mir keine andere Wahl, als...«

»Fahr fort«, unterbrach Astinus mit seiner tiefen, sachlichen Stimme. »Die Welt geht weiter, während wir hier sitzen. Du hast uns alle zusammengerufen. Das ist geschehen. Aus welchem Grund?«

Dalamar schwieg einen Moment, und sein Blick glitt wieder zum Feuer. Als er wieder sprach, sah er nicht auf.

»Unsere schlimmsten Befürchtungen haben sich bestätigt«, sagte er leise. »Er war erfolgreich.«

8

»Komm nach Hause...«

Die Stimme drang aus seinen Erinnerungen herüber. Jemand kniete neben dem Weiher seines Geistes und ließ Worte auf die ruhige, klare Oberfläche fallen. Wellen der Bewußtheit störten ihn und weckten ihn aus einem friedlichen, erholsamen Schlaf.

»Komm nach Hause... Mein Sohn, komm nach Hause.«

Raistlin öffnete die Augen und sah das Gesicht seiner Mutter.

Lächelnd streckte sie die Hand aus und strich das dünne weiße Haar aus seiner Stirn zurück. »Mein armer Sohn«, murmelte sie, ihre dunklen Augen waren weich vor Trauer und Mitleid und Liebe. »Was sie dir angetan haben! Ich habe alles gesehen. Und ich habe geweint. Ja, mein Sohn, auch die Toten weinen. Das ist unser einziger Trost. Aber jetzt ist alles vorbei. Du bist bei mir. Hier kannst du dich ausruhen...«

Raistlin richtete sich mühsam auf. Als er an sich herunterschaute, sah er zu seinem Entsetzen, daß er mit Blut überströmt war. Dennoch empfand er keinen Schmerz und schien keine Verletzungen erlitten zu haben. Das Atmen fiel ihm schwer, und er rang nach Luft.

»Komm, ich helfe dir«, sagte seine Mutter. Sie begann die silberne Kordel zu lösen, die um seine Hüfte geschlungen war, jene Kordel, an der seine Beutel hingen, seine wertvollen Zauberutensilien. Instinktiv schob Raistlin ihre Hand beiseite. Sein Atem ging jetzt leichter. Er sah sich um.

»Was ist geschehen? Wo bin ich?« Er war ziemlich verwirrt. Erinnerungen aus seiner Kindheit stiegen hoch. Erinnerungen aus zwei Kindheiten! Aus seiner... und aus der von einer anderen Person! Er betrachtete seine Mutter, und sie war jemand, den er kannte, und gleichzeitig war sie eine Fremde. »Was ist geschehen?« wiederholte er gereizt und drängte die aufsteigenden Erinnerungen zurück, die sein Bewußtsein zu überwältigen drohten.

»Du bist gestorben, mein Sohn«, antwortete seine Mutter sanft. »Und jetzt bist du hier bei mir.«

»Gestorben!« wiederholte Raistlin entgeistert. Hektisch stöberte er in seinem Gedächtnis. Er erinnerte sich, kurz vor dem Sterben gewesen zu sein... Wie kam es, daß er wahrhaftig versagt hatte? Er führte seine Hand zur Stirn und spürte... Fleisch, Knochen, Wärme... Und dann wußte er es wieder...

Das Portal!

»Nein«, schrie er wütend und funkelte seine Mutter an. »Das ist unmöglich.«

»Du hast die Kontrolle über die Magie verloren, mein Sohn«, erwiderte seine Mutter und streckte wieder ihre Hand aus, um Raistlin zu berühren. Er zog sich von ihr fort. Mit einem leichten, traurigen Lächeln – jenem Lächeln, an das er sich so gut erinnerte – ließ sie ihre Hand wieder in ihren Schoß fallen. »Das Feld hat sich verschoben. Die Kräfte haben dich entzweigerissen. Es folgte eine schreckliche Explosion, die die Ebene von Dergod verwüstete. Die magische Festung Zaman ist in sich zusammengestürzt.« Die Stimme seiner Mutter bebte. »Der Anblick deines Leidens war mehr, als ich ertragen konnte.«

»Ich erinnere mich«, flüsterte Raistlin und legte beide Hände an den Kopf. »Ich erinnere mich an den Schmerz... aber...« Er erinnerte sich auch an etwas anderes: an strahlende Blitze aus vielfarbigen Lichtern, er erinnerte sich an das Gefühl des Frohlockens und der Ekstase, das in seiner Seele aufstieg, er erinnerte sich an die Drachenköpfe, die das Portal bewachten und vor Zorn aufschrien, er erinnerte sich, daß er seine Arme um Crysania gelegt hatte.

Raistlin erhob sich und schaute sich um. Er stand auf einem flachen, gleichförmigen Boden – in irgendeiner Wüste. In der Ferne konnte er ein Gebirge erkennen. Es sah vertraut aus – natürlich! Thorbadin! Das Zwergenkönigreich. Er wandte sich um. Dort lagen die Ruinen der Festung wie ein Schädel, der das Land in seinen ewig grinsenden Mund schlang. Er stand also auf der Ebene von Dergod. Er erkannte die Landschaft wieder. Aber obwohl er sie wiedererkannte, schien sie ihm seltsam fremd. Alles war mit einem Hauch Rot überzogen, als müßte er seine Umgebung durch blutverschwommene Augen betrachten. Und obwohl alles genauso aussah wie in seiner Erinnerung, kam es ihm gleichzeitig fremd vor.