Jenes Schädeldach hatte er schon während des Lanzenkrieges gesehen. Er erinnerte sich aber nicht, daß es auf diese widerliche Weise gegrinst hatte. Auch das Gebirge hob sich scharf und deutlich vom Himmel ab. Der Himmel! Raistlin hielt den Atem an. Er war leer! Schnell sah er sich in alle Richtungen um. Nein, die Sonne war nicht zu sehen, aber es war auch nicht Nacht. Keine Monde, keine Sterne standen im Himmel, der in einer seltsamen Farbe glühte – einem gedämpften Rosaton, dem schwachen Abglanz eines Sonnenuntergangs.
Er sah zu der Frau hinab, die vor ihm auf dem Boden kniete. Raistlin lächelte, und seine dünnen Lippen preßten sich grimmig zusammen. »Nein«, sagte er, und dieses Mal war seine Stimme fest und zuversichtlich. »Nein, ich bin nicht gestorben! Es ist mir gelungen.« Er machte eine Armbewegung. »Das ist der Beweis meines Erfolgs. Ich erkenne diesen Ort wieder. Der Kender hat ihn mir beschrieben. Er sagte, es wäre ein Ort wie alle anderen, an denen er je gewesen ist. Hier habe ich das Portal durchschritten, und jetzt stehe ich in der Hölle.«
Raistlin bückte sich, ergriff die Frau am Arm und zog sie auf die Füße. »Dämon, Geist! Wo ist Crysania? Sag es mir, wer oder was du auch immer bist! Sag es mir, oder, bei den Göttern, ich werde...«
»Raistlin! Hör auf, du tust mir weh!«
Raistlin zuckte zusammen und riß die Augen auf. Es war Crysania, die da sprach, Crysania, deren Arm er festhielt! Erschüttert lockerte er seinen Griff, aber in Sekundenschnelle war er wieder Herr über sich selbst. Sie versuchte sich loszumachen, aber er verstärkte seinen Griff und zog sie zu sich. »Crysania?« fragte er und musterte sie aufmerksam.
Sie sah verwirrt zu ihm auf. »Ja«, stammelte sie. »Was ist los, Raistlin? Du redest so merkwürdig.«
Der Erzmagier packte fester zu. Crysania schrie auf. Ja, der Schmerz in ihren Augen war real, genau wie ihre Angst. Lächelnd, seufzend legte Raistlin seine Arme um sie und drückte sie eng an sich. Sie war Fleisch, Wärme, Duft, klopfendes Herz...
»O Raistlin!« Sie kuschelte sich an ihn. »Ich hatte solch eine Angst. Dieser schreckliche Ort. Ich war so allein.«
Seine Hand fuhr durch ihr schwarzes Haar. Ihr weicher und duftender Körper berauschte ihn und erfüllte ihn mit Wünschen. Sie rückte dichter zu ihm und warf ihren Kopf zurück. Ihre Lippen waren weich und voller Erwartung, und sie zitterte in seinen Armen. Raistlin sah auf sie herab – und starrte in flammende Augen.
»Du bist also schließlich doch nach Hause gekommen, mein Magier!«
Schwülstiges Gelächter brannte in seinem Hirn, während sich der geschmeidige Körper in seinen Armen wand und bog – er hielt den Hals eines fünfköpfigen Drachen umklammert... Säure tröpfelte aus den klaffenden Kiefern auf ihn herab... Feuer toste um ihn herum... Schwefelgerüche ließen ihn würgen. Der Kopf schlängelte sich nach unten...
Verzweifelt und zornig beschwor Raistlin seine Magie. Doch während er noch die Worte des Verteidigungszaubers in seinem Gedächtnis bildete, spürte er schon einen Hauch von Zweifel. Vielleicht funktionierte die Magie nicht! Ich bin geschwächt, vielleicht hat die Reise durch das Portal meine Kräfte aufgezehrt. Angst, so scharf und schlank wie die Klinge eines Dolches, bohrte sich durch seine Seele. Die Worte des Zaubers entglitten ihm, und Panik überschwemmte seinen Körper. Die Königin! Es ist ihr Tun... Nein! Das stimmte nicht. Er hörte Gelächter, siegesgewisses Gelächter...
Leuchtendweißes Licht blendete ihn. Er fiel, fiel, fiel endlos wie in einer Spirale von der Dunkelheit in die Helligkeit des Tages.
Als Raistlin die Augen aufschlug, sah er in Crysanias Gesicht.
Ihr Gesicht, aber es war nicht das Gesicht, das er kannte. Es alterte, es starb, noch während er es ansah. In ihrer Hand hielt sie das Platinmedaillon von Paladin. Sein reiner weißer Glanz strahlte hell im unheimlich rosafarbenen Licht um sie herum. Raistlin schloß seine Augen, um den Anblick des alternden Gesichts der Klerikerin vertreiben zu können, rief Erinnerungen zurück, wie sie in der Vergangenheit ausgesehen hatte – zierlich, wunderschön, voller Liebe und Leidenschaft. Ihre Stimme drang zu ihm, kühl, fest.
»Ich habe dich fast verloren.«
Ohne seine Augen zu öffnen, ergriff er ihre Arme und hielt sie verzweifelt fest. »Wie sehe ich aus? Sag es mir! Habe ich mich verändert, oder nicht?«
»Du bist noch so wie damals, als ich dich in der Großen Bibliothek kennenlernte«, antwortete Crysania. Ihre Stimme war immer noch fest, zu fest – angespannt, nervös.
Ja, dachte Raistlin. Ich bin so, wie ich war. Und das bedeutet, daß ich in die Gegenwart zurückgekehrt bin. Er spürte seine alte Zerbrechlichkeit, die alte Schwäche, den brennenden Schmerz in seiner Brust und mit ihm die erstickende Heiserkeit seines Hustens, als ob in seinen Lungen Spinngewebe wüchsen. Er brauchte nur die Augen zu öffnen, das wußte er, und dann würde er die goldgefärbte Haut, das weiße Haar, die Stundenglasaugen sehen... Er schob Crysania von sich, rollte sich auf den Bauch, ballte vor Zorn seine Fäuste und schluchzte vor Wut und Angst.
»Raistlin!« Echtes Entsetzen lag jetzt in Crysanias Stimme. »Was ist los? Raistlin, wo sind wir? Was stimmt nur nicht?«
»Ich habe es geschafft«, stöhnte er. Er öffnete seine Augen und beobachtete ihr Gesicht, wie es weiter verfiel. »Ich habe es geschafft. Wir sind in der Hölle.«
Ihre Augen öffneten sich weit, und ihre Lippen teilten sich. Angst mischte sich mit Freude.
Raistlin lächelte bitter. »Und meine Magie ist verschwunden.«
Verblüfft starrte Crysania ihn an. »Ich verstehe nicht...«
Raistlin krümmte sich vor Qual und schrie sie an: »Meine Magie ist verschwunden! Ich bin schwach, hilflos – hier, in ihrem Reich!« Plötzlich besann er sich, daß sie vielleicht zuhören könnte, daß sie ihn beobachtete und seine Hilflosigkeit genoß, und er erstarrte. Er sah sich vorsichtig um.
»Aber nein, noch hast du mich nicht besiegt!« flüsterte er. Seine Hand schloß sich um den Stab des Magus, der an seiner Seite lag. Er stützte sich schwer auf ihn und zog sich auf die Füße. Crysania legte sanft ihren starken Arm um ihn und half ihm beim Aufstehen. »Nein«, murmelte er, starrte dabei in die Unermeßlichkeit der verlassenen Ebenen und in den rosafarbenen, leeren Himmel. »Ich weiß, wo du bist! Ich spüre es! Du bist in der Heimat der Götter. Ich aber weiß, wo das Land liegt. Ich weiß, wie ich mich bewegen muß. Der Kender lieferte mir in seinen Fieberträumen den Schlüssel. Das Land unten spiegelt das Land wider, das oben liegt. Ich werde dich finden, auch wenn die Reise lang und tückisch sein wird. Ja« – er schaute sich noch einmal um – »ich spüre, wie du in mein Bewußtsein eindringst, wie du meine Gedanken liest und alles im voraus siehst, was ich sagen und machen werde. Du glaubst, es sei einfach, mich zu besiegen! Aber ich spüre auch deine Verwirrung. Denn jemand ist bei mir, dessen Bewußtsein du nicht berühren kannst! Crysania verteidigt und beschützt mich, nicht wahr?«
»Ja, Raistlin«, flüsterte Crysania, die den Erzmagier noch immer stützte.
Raistlin machte einen Schritt, einen zweiten und einen weiteren. Er lehnte sich an Crysania, er lehnte sich auf seinen Stab. Und immer noch bedeutete jeder Schritt eine Qual, jeder Atemzug brannte. Als er sich auf dieser Welt umschaute, sah er nur Leere.
Und auch in seinem Inneren war nur Leere. Seine Magie war verschwunden.
Raistlin taumelte. Crysania fing ihn auf und hielt ihn fest. Als sie ihn an sich drückte, liefen Tränen über ihre Wangen.
Er konnte Gelächter hören...
Vielleicht sollte ich jetzt aufgeben! dachte er in bitterster Verzweiflung. Ich bin so müde, so furchtbar müde. Und ohne meine Magie, was bleibt da von mir?
Nichts. Nichts als ein schwaches, erbärmliches Kind...
9
Nach den Worten Dalamars herrschte lange Zeit Schweigen im Zimmer. Dann wurde das Schweigen durch das Kratzen eines Federhalters unterbrochen. Astinus zeichnete die Worte des Dunkelelfen in seinem großen Buch auf.