»Möge Paladin Gnade walten lassen«, murmelte Elistan. »Ist sie bei ihm?«
»Natürlich«, schnappte Dalamar gereizt und enthüllte eine Nervosität, die er trotz aller Gefaßtheit nicht verbergen konnte. »Was denkst du denn, wie er sonst erfolgreich hätte sein können? Das Portal ist allen verschlossen außer den vereinigten Kräften eines schwarzgekleideten Zauberers mit einer Macht, wie er sie hat, und eines weißgekleideten Klerikers mit derart starkem Glauben, wie sie ihn bewiesen hat.«
Tanis sah verwirrt von einem zum anderen. »Hört mal«, erklärte er wütend, »ich verstehe überhaupt nichts. Was ist überhaupt los? Über wen sprecht ihr eigentlich? Raistlin? Was macht er? Hat es etwas mit Crysania zu tun? Und was ist mit Caramon? Er ist doch auch verschwunden. Zusammen mit Tolpan! Ich...«
»Beherrsche die menschliche Hälfte deines Wesens in ihrer Ungeduld, Halb-Elf«, bemerkte Astinus, der immer noch mit ruhigen schwarzen Federzügen schrieb. »Und du, Dunkelelf, beginn mit dem Anfang anstatt mit der Mitte.«
»Beziehungsweise mit dem Ende, wie es der Fall zu sein scheint«, warf Elistan mit leiser Stimme ein.
Dalamar befeuchtete seine Lippen mit Wein – sein Blick blieb starr aufs Feuer gerichtet – und erzählte die seltsame Geschichte, von der Tanis bis jetzt nur Teile kannte. Vieles hätte der Halb-Elf vermuten können, vieles erstaunte ihn, und vieles erfüllte ihn mit Entsetzen.
»Crysania war von Raistlin gefesselt. Und wenn die volle Wahrheit gesagt werden soll, so bin ich überzeugt, daß auch er von ihr angezogen war. Wer kann das bei ihm schon genau sagen? Eiswasser ist zu heiß für seine Adern. Wer weiß, wie lange er das geplant und davon geträumt hat? Aber schließlich war er bereit. Er plante eine Reise in die Vergangenheit, um etwas zu suchen, was ihm fehlte – das Wissen des größten Zauberers, der je gelebt hatte, das Wissen von Fistandantilus.
Er stellte Crysania eine Falle, weil er plante, sie zu sich in die Vergangenheit zu locken, so wie auch seinen Zwillingsbruder...«
»Caramon?« fragte Tanis erstaunt.
Dalamar ignorierte die Frage. »Aber etwas Unvorhergesehenes geschah. Die Halbschwester des Meisters Kitiara, eine Drachenfürstin...«
Das Blut pochte in Tanis’ Kopf und ließ seine Sicht verschwimmen und sein Gehör verdunkeln. Er spürte, daß das Blut auch in seinem Gesicht pulsierte. Er glaubte, daß seine Haut bei einer Berührung aufflammen würde, so heiß war sie.
Kitiara!
Sie stand wieder vor ihm: Ihre dunklen Augen funkelten, dunkles Haar lockte sich um ihr Gesicht, und ihre Lippen teilten sich leicht zu diesem bezaubernden, verschmitzten Lächeln. Das Licht spiegelte sich in ihrer Rüstung...
Sie sah auf ihn herab vom Rücken ihres blauen Drachen, umgeben von ihren Lakaien, herrschaftlich und mächtig, stark und skrupellos...
Sie lag in seinen Armen, liebend, lachend....
Obwohl er ihn nicht sehen konnte, spürte Tanis Elistans mitfühlenden und mitleidigen Blick. Er zuckte vor dem strengen, wissenden Blick von Astinus zurück. Eingehüllt in seine eigene Schuld, seine eigene Schande, seine eigene Erbärmlichkeit bemerkte Tanis nicht, daß auch Dalamars Gesichtsfarbe sich geändert hatte, die jedoch eher blaß und nicht gerötet war. Er hörte auch nicht das Beben in der Stimme des Dunkelelfen, als er von Kitiara sprach.
Mühsam gewann Tanis seine Fassung wieder und hörte weiter zu. Aber er spürte wieder den alten Schmerz in seinem Herzen, einen Schmerz, von dem er dachte, er hätte ihn für immer verbannt. Er war glücklich mit Laurana. Er liebte sie tiefer und zärtlicher, als er gedacht hatte, daß ein Mann eine Frau lieben könnte. Er war mit sich im Frieden. Sein Leben war reich und erfüllt. Und jetzt mußte er verblüfft feststellen, daß diese Dunkelheit noch immer in ihm war, eine Dunkelheit, von der er dachte, er hätte sie für ewig vertrieben.
»Auf Kitiaras Befehl warf der tote Ritter Lord Soth einen Zauber auf Crysania, einen Zauber, der sie hätte töten müssen. Aber Paladin mischte sich ein. Er nahm ihre Seele zu sich und ließ nur ihre Körperschale zurück. Ich dachte, der Meister wäre besiegt. Aber keineswegs. Er münzte den Verrat seiner Schwester zu seinem Vorteil um. Sein Zwillingsbruder Caramon und der Kender Tolpan brachten Crysania zum Turm der Erzmagier nach Wayreth, weil sie hofften, daß die Magier sie heilen könnten. Es stand aber nicht in ihrer Macht, was Raistlin nur zu gut wußte. Sie konnten sie lediglich in die Vergangenheit zurückschicken, in eine Epoche der Geschichte von Krynn, in der ein Königspriester lebte, der mächtig genug war, Paladin aufzurufen, die Seele der Frau wieder ihrem Körper zurückzugeben. Das aber entsprach genau Raistlins Wünschen.«
Dalamar ballte seine Fäuste. »Ich hatte das den Magiern auch gesagt! Narren! Ich sagte ihnen, daß sie sie direkt in seine Hände spielen würden.«
»Du hast ihnen das gesagt?« Tanis fühlte sich wieder gefaßt genug, um diese Frage zu stellen. »Du hast ihn verraten, deinen Meister?« Er schnaubte ungläubig.
»Ich spiele ein gefährliches Spiel, Halb-Elf.« Dalamar sah ihn jetzt offen an, seine Augen leuchten von innen heraus, wie die glühende Kohle im Feuer. »Ich bin ein Spion, den die Versammlung der Magier ausgesandt hat, jeden Schritt von Raistlin zu beobachten. Ja, du kannst ruhig erstaunt sein. Sie fürchten ihn – alle Orden fürchten ihn, die Weißen, die Roten, sogar die Schwarzen. Besonders die Schwarzen, weil wir unser Schicksal kennen, falls er zur Macht gelangen sollte.«
Während Tanis ihn noch anstarrte, hob der Dunkelelf seine Hand und teilte langsam die vorderen Falten seiner schwarzen Robe und legte seine Brust frei. Fünf eiternde Wunden verunstalteten die Oberfläche seiner glatten Haut. »Das Zeichen seiner Hand«, erklärte Dalamar mit ausdrucksloser Stimme. »Die Belohnung für meinen Verrat.«
Tanis konnte Raistlin plötzlich sehen, wie er seine dünnen, goldenen Finger auf die Brust des jungen Dunkelelfen legte, er konnte plötzlich Raistlins Gesicht sehen – ohne Gefühl, ohne Bösartigkeit, ohne Grausamkeit, ohne jeglichen Hauch von Menschlichkeit —, und er konnte diese Finger das Fleisch seines Opfers brandmarken sehen. Er schüttelte den Kopf, Übelkeit fühlte er in sich hochsteigen und sank auf seinen Stuhl zurück, den Blick auf den Boden gerichtet.
»Aber sie hörten mir nicht zu«, fuhr Dalamar fort. »Sie klammerten sich an einen Strohhalm. Wie Raistlin vorausgesehen hatte, lag ihre größte Hoffnung in ihrer größten Angst. Sie faßten den Entschluß, Crysania in die Vergangenheit zu schicken, angeblich, damit der Königspriester ihr helfen könne. Das erzählten sie Caramon, da sie wußten, daß er sich sonst verweigert hätte. Aber in Wirklichkeit schickten die Magier sie zum Sterben zurück oder daß sie zumindest verschwinden würde, so wie alle anderen Kleriker vor der Umwälzung verschwanden. Und sie hofften, daß Caramon in der Vergangenheit die Wahrheit über seinen Zwillingsbruder erfahren würde: daß Raistlin in Wirklichkeit Fistandantilus war. Und sie hofften, daß er gezwungen sein würde, seinen Bruder zu töten.«
»Caramon?« Tanis lachte bitter, und wieder verfinsterte sich sein Gesicht vor Zorn. »Wie konnten sie bloß so etwas denken? Der Mann ist krank! Das einzige, was Caramon noch töten kann, ist eine Flasche Zwergenspiritus! Raistlin hat ihn bereits zerstört. Warum haben sie nicht...«
Als Tanis Astinus’ gereizten Blick bemerkte, verstummte er. Seine Gedanken wirbelten wild umher. Das alles ergab keinen Sinn! Er sah zu Elistan hinüber. Der Kleriker mußte bereits alles gewußt haben. Sein Gesicht zeigte weder Entsetzen noch Überraschung – selbst als er gehört hatte, daß die Magier Crysania zum Sterben in die Vergangenheit geschickt hatten. Aus seinem Gesicht sprach lediglich tiefer Kummer.
Dalamar erzählte weiter. »Aber der Kender, Tolpan Barfuß, verwirrte Par-Salians Zauber und reiste zufällig mit Caramon zurück in die Vergangenheit. Durch das Auftauchen eines Kenders im Fluß der Zeit wurde es möglich, die Zeit zu verändern. Über die Ereignisse in Istar können wir nur Vermutungen anstellen. Wir wissen aber, daß Crysania nicht starb. Caramon hat seinen Bruder nicht umgebracht. Und Raistlin war in seinem Bestreben erfolgreich, das Wissen von Fistandantilus zu erlangen. Er nahm Crysania und Caramon mit sich und bewegte sich nach vorne im Fluß der Zeit, dorthin, wo Crysania die einzig wahre Klerikerin im ganzen Lande sein würde. Er reiste in die Epoche unserer Geschichte, in der die Königin der Finsternis am verwundbarsten und unfähig war, ihn aufzuhalten.