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Tanis sank auf seinen Stuhl zurück. Sein erster Gedanke war bittere, zynische Belustigung: Das habe ich dir gesagt, Herrscher Amothud. Ich habe es auch dir erklärt, Porthios. Ich sagte es euch allen, die ihr wieder in eure netten, warmen, kleinen Nester zurückkriechen wolltet und vorgabt, daß der Krieg sich niemals ereignet hätte. Tanis’ nächste Gedanken waren nüchterner. Erinnerungen kehrten zurück – die Stadt Tarsis in Flammen, die Drachenarmeen, die Solace erobert hatten, der Schmerz, das Leiden... Tod.

Elistan sagte etwas, aber Tanis konnte ihn nicht verstehen. Er lehnte sich zurück, schloß seine Augen und versuchte zu denken. Er erinnerte sich daran, daß Dalamar etwas über Kitiara gesagt hatte, aber was war es gewesen? Es trieb an fernen Gestaden seines Bewußtseins. Er hatte über Kitiara nachgedacht. Er hatte nicht aufgepaßt.

»Wartet!« Tanis richtete sich auf, denn plötzlich erinnerte er sich wieder. »Du hast gesagt, Kitiara wäre voller Groll gegen Raistlin. Du hast gesagt, sie sei genauso verängstigt wie wir, daß die Königin wieder diese Welt betreten könnte. Das war der Grund, warum sie Soth befahl, Crysania zu töten. Wenn das aber stimmt, warum will sie dann Palanthas angreifen? Das ergibt keinen Sinn! Ihre Macht in Sanction wächst täglich. Alle bösen Drachen haben sich dort versammelt, und aus den Berichten geht hervor, daß die Drakonier, die nach dem Krieg überall verstreut waren, sich ebenfalls unter ihrem Kommando sammeln. Aber Sanction ist von Palanthas weit entfernt. Dazwischen liegt das Land der Ritter von Solamnia. Die guten Drachen werden aufstehen und kämpfen, wenn die Drachen des Bösen sich wieder am Himmel zeigen. Warum? Warum sollte sie alles aufs Spiel setzen, was sie gewonnen hat? Und wofür...«

»Du kennst doch Fürstin Kitiara, glaube ich, Halb-Elf?« unterbrach ihn Dalamar.

Tanis würgte, hustete und murmelte etwas Unverständliches.

»Wie bitte?«

»Ja, verdammt, ich kenne sie!« schnappte Tanis, erhaschte Elistans Blick und sank wieder auf seinen Stuhl zurück. Er spürte seine Haut brennen.

»Du hast recht«, sagte Dalamar ruhig, und ein Hauch von Belustigung lag in seinen hellen Elfenaugen. »Als Kitiara von Raistlins Plan erfuhr, war sie zunächst verängstigt. Natürlich nicht seinetwegen, sondern weil sie Angst hatte, daß er den Zorn der Dunklen Königin über sie bringen würde. Aber« – Dalamar zuckte die Achseln – »das war zu einer Zeit, als Kitiara glaubte, daß Raistlin verlieren würde. Jetzt scheint sie zu erwägen, daß er eine Chance hat zu gewinnen. Und sie versucht immer, auf der Gewinnerseite zu stehen. Sie plant, Palanthas zu erobern und damit bereit zu sein, den Zauberer zu begrüßen, wenn er durch das Portal kommt. Sie wird ihrem Bruder die Macht ihrer Soldaten zur Verfügung stellen. Wenn er stark genug ist – und zu der Zeit könnte das der Fall sein —, kann er problemlos die bösen Kreaturen der Dunklen Königin abspenstig machen, um ihre Ergebenheit seinem Zweck dienlich zu machen.«

»Kitiara?« Jetzt war Tanis an der Reihe, belustigt zu schauen. Dalamar knurrte leicht.

»O ja, Halb-Elf. Ich kenne Kitiara genauso gut wie du.«

Aber der sarkastische Ton in der Stimme des Dunkelelfen versagte und verkehrte sich unbewußt in Bitterkeit. Seine schlanken Hände ballten sich zusammen. Tanis nickte im plötzlichen Verstehen und empfand, merkwürdig genug, eine seltsame Sympathie für den jungen Elfen.

»Sie hat dich also auch verraten«, murmelte Tanis leise. »Sie hat dir Unterstützung gelobt. Sie sagte, sie würde da sein und an deiner Seite stehen. Falls Raistlin zurückkehrte, würde sie an deiner Seite kämpfen.«

Dalamar erhob sich, und seine schwarzen Roben raschelten um ihn. »Ich habe ihr niemals vertraut«, sagte er kalt, aber er drehte ihnen den Rücken zu und starrte angestrengt in die Flammen. Und er hielt sein Gesicht abgewendet. »Ich wußte, zu welchem Verrat sie fähig sein könnte. Das war für mich keine Überraschung.«

Aber Tanis bemerkte, daß die Hand, die sich an dem Kaminsims klammerte, weiß anlief.

»Wer hat dir das alles gesagt?« unterbrach Astinus abrupt. Tanis schreckte zusammen. Er hatte die Anwesenheit des Historikers beinahe vergessen. »Sicherlich nicht die Dunkle Königin. Es würde sie niemals interessieren.«

»Nein, nein.« Dalamar wirkte einen Augenblick verwirrt. Offensichtlich war er mit seinen Gedanken weit entfernt. Seufzend sah er wieder zu ihnen herüber. »Lord Soth, der tote Ritter, hat mir das gesagt.«

»Soth?« Tanis hatte das Gefühl, daß er langsam die Kontrolle über die Wirklichkeit verlor.

Hektisch suchten seine Gedanken einen Halt. Magier, die Magiern nachspionierten. Kleriker des Lichtes, die sich mit Zauberern der Dunkelheit zusammenschließen. Dunkelheit, die dem Licht vertraut, das sich gegen die Dunkelheit richtet. Licht, das sich der Dunkelheit zuwendet...

»Soth ist Kitiara treu ergeben!« murmelte Tanis verwirrt. »Warum sollte er sie verraten?«

Dalamar wandte sich vom Feuer ab und sah Tanis wieder in die Augen. Für den Augenblick eines Herzschlags war ein Band zwischen ihnen beiden, ein Band, geschmiedet durch geteiltes Verstehen, geteiltes Leid, geteilte Qual, geteilte Leidenschaft. Und plötzlich verstand Tanis alles, und seine Seele schrumpfte vor Entsetzen zusammen.

»Er will sie tot«, erwiderte Dalamar.

10

Der Junge lief durch die Straßen von Solace. Er war nicht attraktiv, und das wußte er – so wie er viel über sich wußte, was Kindern nicht häufig gegeben ist. Aber er verbrachte viel Zeit mit sich selbst. Heute jedoch war er nicht allein. Sein Zwillingsbruder, Caramon, war bei ihm. Raistlin blickte finster. Er schlurfte durch die staubigen Dorfstraßen und beobachtete den Staub, wie er in Wolken um ihn aufwirbelte. Er lief dort zwar nicht allein, aber auf eine merkwürdige Art war er mit Caramon eher allein als ohne ihn. Viele Menschen riefen seinem liebenswürdigen, gutaussehenden Zwillingsbruder Grüße zu. Doch niemals galt ihm ein Wort. Alle riefen Caramon, er solle sich zu ihren Spielen gesellen. Niemand lud Raistlin ein. Die Mädchen sahen Caramon auf diese besondere Art aus den Augenwinkeln an, die Mädchen eben eigen ist. Mädchen bemerkten Raistlin niemals.

»He, Caramon, möchtest du König des Schlosses spielen?« gellte eine Stimme.

»Möchtest du, Raist?« fragte Caramon, und sein Gesicht strahlte erwartungsvoll auf. Kräftig und athletisch wie er war, genoß Caramon das rauhe, anstrengende Spiel. Aber Raistlin wußte, daß er sich bald schwach und schwindelig fühlen würde, wenn er sich auf ein Spiel einließ. Und er wußte vorher, daß die anderen Jungen sich streiten würden, welche Mannschaft ihn aufnehmen müßte.

»Nein, aber geh nur.«

Caramon machte ein langes Gesicht. Mit einem Schulterzucken sagte er dann: »Nein, ist schon in Ordnung, Raistlin. Ich bleibe lieber bei dir.«

Raistlin spürte, wie sich seine Kehle zusammenzog und wie sich sein Magen verkrampfte. »Nein, Caramon«, wiederholte er leise, »es ist in Ordnung. Mach schon und geh spielen.«

»Du siehst aus, als ob du dich nicht gut fühlst, Raist«, sagte Caramon. »Es ist nicht so wichtig. Wirklich. Komm schon, zeig mir den neuen Zaubertrick, den du gelernt hast – den mit den Münzen...«

»Behandel mich nicht so!« hörte Raistlin sich schreien. »Ich brauche dich nicht! Ich will dich nicht in meiner Nähe haben! Geh schon! Geh und spiel mit diesen Narren! Ihr alle zusammen seid ein Haufen Narren! Ich brauche keinen von euch!«

Caramons Gesicht fiel zusammen. Raistlin kam sich vor, als hätte er gerade einen Hund getreten. Dies Gefühl machte ihn nur noch zorniger. Er wandte sich ab.

»Sicher, Raist, wenn du es so möchtest«, murmelte Caramon.

Über seine Schulter sah Raistlin seinen Zwillingsbruder zu den anderen laufen. Mit einem Seufzer setzte er sich an einen schattigen Platz, zog eines seiner Zauberbücher aus seinem Beutel, versuchte, die Rufe, das Lachen und Grüßen zu überhören, und begann zu studieren. Bald schon zog ihn der Reiz der Magie vom Staub und dem Lachen und den verletzten Augen seines Bruders fort. Sie führte ihn in ein verzaubertes Land, in dem er die Elemente kommandierte, in dem er die Wirklichkeit kontrollierte...