Der Befehlshaber – ein Mann von ungefähr vierzig Jahren – hatte sich seinen Weg durch die Ränge gekratzt und gekrallt und gemordet, um seine derzeitige Stellung als General der Drachenarmee zu erringen. Mit krummem Rücken und häßlich, entstellt von einer Narbe, die quer über sein Gesicht lief, hatte der Befehlshaber niemals Kitiaras Gunst genossen, wie so viele ihrer Generäle in der Vergangenheit. Aber er war nicht ohne Hoffnung. Als er ihr einen flüchtigen Blick zuwarf, sah er ihr Gesicht – ungewöhnlich kalt und ernst in den vergangenen Tagen —, das über sein Lob vor Freude aufstrahlte. Sie ließ sich sogar zu einem Lächeln herab – ihrem verschmitzten Lächeln, das sie so gut einzubringen wußte. Das Herz des Befehlshabers schlug schneller.
»Es ist gut zu sehen, daß du deinen Schwung nicht verloren hast«, sagte Lord Soth, und seine hohle Stimme echote durch den Kartenraum.
Der Befehlshaber erschauerte. Er hätte sich eigentlich an den toten Ritter gewöhnt haben müssen. Die Dunkle Königin wußte, daß er genügend Schlachten mit ihm und seiner Armee von Skelettkriegern ausgetragen hatte. Aber die Eiseskälte des Grabes umgab den Ritter, so wie sein schwarzer Umhang seine verkohlte und blutverschmierte Rüstung einhüllte.
Wie kann sie ihn ertragen? fragte sich der Befehlshaber. Man erzählte sich, daß er sogar ihr Schlafzimmer heimsuchte! Der Gedanke ließ das Herz des Befehlshabers rasch wieder normal schlagen. Vielleicht waren die Sklavinnen doch nicht so schlecht. Wenn man allein mit ihnen in der Dunkelheit war, dann war man allein in der Dunkelheit!
»Natürlich habe ich meinen Schwung nicht verloren!« gab Kitiara voll heftigem Zorn zurück, so daß ihr Befehlshaber sich unbehaglich umschaute und sich eilig eine Entschuldigung zum Verschwinden überlegte. Glücklicherweise bereitete sich die ganze Stadt Sanction auf den Krieg vor. Ausreden waren nicht schwer zu finden.
»Wenn Ihr mich mich nicht länger benötigt, meine Fürstin«, sagte er also und verbeugte sich, »ich muß die Arbeiten in der Waffenschmiede überprüfen. Es gibt viel zu tun, und die Zeit ist knapp.«
»Ja, geh schon«, murmelte Kitiara geistesabwesend. Ihre Augen waren auf die riesige Karte gerichtet, die vor ihren Füßen in die Kacheln des Bodens eingelegt war. Der Befehlshaber drehte sich um, um das Zimmer zu verlassen. Sein Breitschwert klirrte gegen seine Rüstung. An der Tür hielt ihn jedoch Kitiaras Stimme auf. »Befehlshaber?«
Er drehte sich um. »Meine Fürstin?«
Kitiara wollte etwas sagen, hielt inne, biß sich auf die Lippen und fuhr dann fort: »Ich... ich habe mich gefragt, ob du mir heute abend nicht Gesellschaft beim Essen leisten möchtest.« Sie zuckte die Achseln. »Aber für diese Frage ist es zu spät. Ich vermute, daß du schon Pläne gemacht hast.«
Der Befehlshaber zögerte verwirrt. Seine Handflächen begannen zu schwitzen. »Tatsache ist, Fürstin, daß ich schon eine Verabredung habe, aber das kann problemlos geändert werden...«
»Nein«, unterbrach ihn Kitiara, ein Ausdruck der Erleichterung flog über ihr Gesicht. »Nein, das ist nicht notwendig. An einem anderen Abend. Du bist entlassen.«
Der Befehlshaber, immer noch verwirrt, drehte sich langsam um und wollte wieder das Zimmer verlassen. Dabei streifte er mit einem flüchtigen Blick die orangenen, glühenden Augen des toten Ritters, die direkt durch ihn starrten.
Jetzt muß ich mich um eine Verabredung zum Abendessen kümmern, dachte er, während er durch den Korridor eilte. Leicht genug. Und er würde heute nacht eines der Sklavenmädchen kommen lassen – seine Lieblingssklavin...
»Du solltest dich entspannen. Gönne dir einen angenehmen Abend«, schlug Lord Soth vor, als die Schritte des Befehlshabers im Korridor von Kitiaras Hauptquartier verhallt waren.
»Es gibt viel zu tun, und die Zeit ist knapp«, erwiderte Kitiara und gab vor, völlig in die Karte zu ihren Füßen vertieft zu sein. Sie stand auf der Stelle, die mit »Sanction« beschriftet war, und sah in die weit entlegene nordwestliche Ecke des Raumes, wo Palanthas lag, in die beschützenden Klüfte seines Gebirges gebettet.
Soth folgte ihrem Blick und schritt langsam durch den Raum. An dem einzigen Paß blieb er stehen, der durch das zerklüftete Gebirge verlief, an einer Stelle, die mit »Turm des Oberklerikers« beschriftet war.
»Die Ritter werden natürlich versuchen, dich hier aufzuhalten«, sagte Soth. »Wo sie dich ja auch während des vergangenen Krieges aufhielten.«
Kitiara grinste, schüttelte ihr lockiges Haar und ging auf Soth zu. Ihr Gang war wieder geschmeidig. »Nun, wäre das kein toller Anblick? All die hübschen Ritter, in einer Linie aufgestellt.« Plötzlich fühlte sie sich seit Monaten wieder besser und begann zu lachen. »Weißt du, der Ausdruck auf ihren Gesichtern, wenn sie sehen, was wir für sie auf Lager haben, wird schon fast diesen ganzen Feldzug wert sein.«
Sie stand jetzt auf dem Turm des Oberklerikers und zermalmte dort die Karte mit ihrem Absatz. Dann machte sie einige wenige Schritte, um sich neben Palanthas zu stellen.
»Endlich«, murmelte sie, »wird diese feine, prächtige Dame das Schwert des Krieges spüren, wie es ihr sanftes, reifes Fleisch aufschlitzt.« Lächelnd wandte sie sich wieder an Lord Soth. »Ich glaube, ich will doch diesen Befehlshaber zum Abendessen bei mir haben. Laß ihn zu mir schicken.« Soth verneigte sich ergeben, und seine orangefarbenen Augen flammten vor Belustigung auf. »Wir werden viele militärische Probleme zu besprechen haben.« Kitiara lachte wieder und begann, die Schnallen ihrer Rüstung zu lösen. »Probleme wie unbewachte Flanken, das Durchbrechen von Mauern, Vorstöße...«
»Nun, beruhige dich, Tanis«, sagte Fürst Gunther freundlich, »du bist erschöpft und nervös.«
Tanis, der Halb-Elf, murmelte etwas.
»Was hast du gesagt?« Gunther drehte sich um; in der Hand hielt er einen Krug seines besten Biers (gezapft von dem Faß in der dunklen Ecke unter den Kellerstufen). Er reichte Tanis den Krug.
»Ich sagte nur, daß du verdammt recht hast, ich bin erschöpft und nervös!« gab der Halb-Elf barsch zurück. Das hatte er zwar gar nicht gesagt, aber es war sicherlich angemessener, wenn man mit dem Großmeister der Ritter von Solamnia sprach, als das, was er tatsächlich vor sich hin geknurrt hatte.
Fürst Gunther Uth Wistan strich über seinen langen Schnurrbart – das jahrhundertealte Symbol der Ritter, das jetzt wieder in Mode kam —, um sein Lächeln zu verbergen. Natürlich hatte er Tanis’ Gemurmel verstanden. Gunther schüttelte den Kopf. Warum war diese Angelegenheit nicht gleich dem Militär übergeben worden? Nun, außer daß man sich gegen diesen unbedeutenden Ausbruch zweifellos frustrierter Feinde rüsten mußte, hatte er es auch noch mit Lehrlingen schwarzgekleideter Zauberer, weißgekleideten Klerikern, nervösen Helden und einem Bibliothekar zu tun! Gunther seufzte und zupfte düster an seinem Schnurrbart. Jetzt fehlte ihm nur noch ein Kender...
»Tanis, mein Freund, setz dich. Wärme dich am Kamin. Du hast eine lange Reise hinter dir, und für den Spätfrühling ist es recht kalt. Die Seeleute reden von starken Winden und ähnlichem Unsinn. Ich hoffe, deine Reise ist gut verlaufen. Dir kann ich es ja ruhig sagen, aber ich ziehe Greife den Drachen vor...«
»Fürst Gunther«, unterbrach ihn Tanis angespannt. Er blieb stehen. »Ich bin nicht den ganzen Weg nach Sankrist geflogen, um über starke Winde oder die Vorteile von Greifen gegenüber Drachen zu diskutieren! Wir sind in Gefahr! Nicht nur Palanthas, sondern die ganze Welt! Wenn Raistlin erfolgreich...« Tanis ballte seine Fäuste zusammen. Ihm fehlten die Worte.
Gunther füllte sein eigenes Glas aus dem Krug, den Wills, sein alter Gefolgsmann, aus dem Keller geholt hatte, ging zu Tanis hinüber und stellte sich zu ihm. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und drehte den Mann zu sich, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
»Sturm Feuerklinge hatte eine hohe Meinung von dir, Tanis. Du und Laurana, ihr wart seine engsten Freunde.«
Tanis senkte bei diesen Worten den Kopf. Selbst jetzt, mehr als zwei Jahre nach Sturms Tod, konnte er an den Verlust seines Freundes nicht ohne Kummer denken.