Als Gunther ihn nun musterte, fühlte er sich ihm näher als je zuvor. Er sah Weisheit in den leicht schrägen Augen, eine Weisheit, die ihm nicht mühelos zugeflogen war, eine Weisheit, die sich durch inneren Schmerz und Leiden entwickelt hatte. Er sah Angst, die Angst eines Mannes, dessen Mut einen so großen Teil seiner Persönlichkeit ausmachte, daß er bereitwillig seine Angst zugeben konnte. Er sah in ihm einen Führer. Keinen Führer, der einfach ein Schwert schwingt und eine Armee in die Schlacht führt, sondern einen Führer, der im stillen arbeitet, indem er das Beste aus seinen Leuten herausholt, indem er ihnen hilft, Leistungen zu erzielen, die sie sich selbst niemals zugetraut hätten.
Und schließlich verstand Gunther etwas, was er vorher niemals begreifen konnte. Er wußte nun, warum Sturm Feuerklinge, dessen Abstammungslinie sich makellos über Generationen zurückverfolgen ließ, sich entschieden hatte, diesem Mischling zu folgen, der – wenn die Gerüchte stimmten – einer brutalen Vergewaltigung entstammte. Er wußte nun, warum Laurana, eine Elfenprinzessin und eine der stärksten und schönsten Frauen, die er je kennengelernt hatte, alles – selbst ihr Leben – aus Liebe zu diesem Mann riskiert hatte.
»Na schön, Tanis.« Fürst Gunthers strenges Gesicht entspannte sich, und der kühle, höfliche Ton in seiner Stimme wurde herzlicher. »Ich werde mit dir nach Palanthas reisen. Ich werde die Ritter mobilisieren und unsere Verteidigung am Turm des Oberklerikers verstärken. Wie ich bereits erwähnte, haben unsere Spione uns über ungewöhnliche Aktivitäten in Sanction informiert. Es wird den Rittern nicht weh tun, wieder einmal anzutreten. Ist schon lange Zeit her, daß wir eine Feldübung hatten.«
Nach dieser Entscheidung ging Gunther unverzüglich daran, seinen Haushalt auf den Kopf zu stellen, rief nach Wills, seinem Gefolgsmann, verlangte nach seiner Rüstung und befahl, daß sein Schwert geschärft und sein Greif bereitgestellt werden sollte. Bald eilten die Diener hin und her. Seine Gattin kam hinzu und bestand mit einem resignierten Blick darauf, daß er seinen schweren, fellumsäumten Umhang einpackte, auch wenn das Frühlingsfest kurz bevorstand.
In der allgemeinen Verwirrung wurde Tanis völlig vergessen. Der Halb-Elf ging zurück zum Kamin, nahm seinen Krug Bier und setzte sich, um zu trinken. Aber eigentlich schmeckte es ihm nicht. Er starrte in die Flammen und sah wieder und wieder ein bezauberndes, verschmitztes Lächeln, dunkles, lockiges Haar...
12
Crysania hatte keine Ahnung, wie lange sie und Raistlin schon durch das rotgefärbte, verzerrte Land der Hölle reisten. Die Zeit hatte jegliche Bedeutung oder Wichtigkeit verloren. Manchmal schienen sie hier nur wenige Sekunden verweilt zu haben, und manchmal wußte sie, daß sie ermüdende Jahre lang durch das seltsame, bewegliche Gebiet gewandert waren. Sie hatte sich selbst von dem Gift geheilt, aber sie fühlte sich schwach und ausgelaugt. Die Kratzer an ihren Armen schlossen sich nicht. Jeden Tag verband sie die Wunden neu. Doch am Abend waren die Verbände blutdurchnäßt.
Sie war hungrig, aber es war kein Hunger, der Nahrung erforderlich machte, um das Leben zu erhalten, sondern eher ein Appetit auf eine Erdbeere oder ein Stück warmes, frischgebackenes Brot oder ein Zweiglein Minze. Sie verspürte auch keinen Durst, und dennoch träumte sie von klarem, sprudelndem Wasser und spritzigem Wein und dem scharfen, bitteren Geschmack tarbäischen Tees. In diesem Land war das Wasser überall rötlichbraun und schmeckte nach Blut.
Trotzdem kamen sie voran. Zumindest sagte das Raistlin. Er schien an Kraft zu gewinnen, während Crysania immer schwächer wurde. Jetzt war er derjenige, der ihr manchmal beim Gehen half. Er war es, der sie von einer Stadt zur nächsten weiterdrängte, ohne eine Rast einzulegen. Er wollte der Heimat der Götter immer näher kommen, so sagte er ihr. Das spiegelgleiche Bild der Dörfer, die unter diesem Land lagen, lief verschwommen in Crysanias Bewußtsein zusammen – Que-Shu, Xak Tsaroth. Sie überquerten das Neumeer der Hölle – eine fürchterliche Reise. Als Crysania in das Wasser schaute, sah sie die von Panik verzerrten Gesichter derjenigen, die während der Umwälzung gestorben waren und sie jetzt anstarrten.
Sie erreichten einen Ort, der Sanction hieß, wie Raistlin ihr sagte. Crysania fühlte sich hier am schwächsten, und Raistlin erklärte ihr, daß es das Zentrum der Anhänger der Dunklen Königin wäre. Ihre Tempel waren tief unter den Bergen gebaut, bekannt als die Stätten der Fürsten des Unheils. Hier, erzählte Raistlin, hatten sie während des Krieges verruchte Rituale ausgeführt, bei denen die ungeborenen Kinder guter Drachen in die mißgestalteten Drakonier verwandelt worden waren.
Eine Zeitlang – oder vielleicht war es auch nur eine Sekunde – geschah mit ihnen nichts weiter. Niemand warf Raistlin in seinen schwarzen Roben einen zweiten Blick zu, und Crysania wurde überhaupt nicht beachtet. Sie hätte genausogut unsichtbar sein können. Sie passierten problemlos Sanction, wobei Raistlin an Stärke und Zuversicht wuchs. Er erklärte Crysania, daß sie ihrem Ziel sehr nahe wären. Die Heimat der Götter lag irgendwo nördlich des Khalkistgebirges.
Wie er überhaupt eine Richtung in diesem unheimlichen und entsetzlichen Land ausmachen konnte, lag jenseits von Crysanias Vorstellungsvermögen – es gab überhaupt keine Orientierungspunkte, keine Sonne, keine Monde, keine Sterne. Es war niemals wirklich Nacht und niemals wirklich Tag, nur irgendein entsetzlicher, rötlicher Zustand dazwischen. Sie dachte darüber nach, während sie sich erschöpft neben Raistlin her schleppte, ohne zu sehen, wohin sie gingen, da alles irgendwie gleich aussah. Doch plötzlich blieb der Erzmagier stehen. Als sie sein heftiges Luftholen hörte und spürte, wie er sich versteifte, sah sie beunruhigt auf.
Ein Mann mittleren Alters und in die weißen Roben eines Lehrers gekleidet kam auf der Straße auf sie zu...
»Wiederholt meine Worte und denkt daran, sie richtig zu betonen.« Langsam sagte er die Worte auf. Langsam wurden sie von der Klasse wiederholt. Mit Ausnahme eines Schülers.
»Raistlin!«
Die Klasse verstummte.
»Meister?« Raistlin bemühte sich erst gar nicht, bei der Anrede den Hohn in seiner Stimme zu verbergen.
»Ich habe nicht gesehen, daß sich deine Lippen bewegt haben.«
»Vielleicht liegt es daran, daß sie sich nicht bewegt haben, Meister«, entgegnete Raistlin.
Wenn ein anderer in der Klasse der jungen Zauberkundigen solch eine Bemerkung von sich gegeben hätte, hätten die Schüler gekichert. Aber sie wußten, daß Raistlin die gleiche Verachtung für sie hegte wie für den Meister, und so warfen sie ihm finstere Blicke zu und rutschten unbehaglich herum.
»Du kennst den Zauberspruch, oder, Lehrling?«
»Gewiß kenne ich den Zauberspruch«, schnappte Raistlin.
»Ich kenne ihn seit meinem sechsten Lebensjahr! Wann hast du ihn gelernt, letzte Nacht?«
Der Meister funkelte ihn an, und sein Gesicht lief vor Zorn purpurrot an. »Dieses Mal bist du zu weit gegangen, Lehrling! Zu oft hast du mich schon beleidigt!«
Der Klassenraum verschwamm vor Raistlins Augen und löste sich auf. Nur der Meister blieb zurück, und während Raistlin hinsah, verwandelten sich die weißen Roben des alten Lehrers in schwarze! Das dümmliche, feiste Gesicht verzerrte sich zu einem feindseligen, verschlagenen Gesicht des Bösen. Ein Blutsteinanhänger tauchte auf, der an seinem Hals baumelte.
»Fistandantilus!« keuchte Raistlin.
»Wieder begegnen wir uns, Lehrling. Aber wo ist jetzt deine Magie?« Der Zauberer lachte. Er griff mit seiner verwelkten Hand zum Hals und berührte den Blutsteinanhänger.
Panik kroch über Raistlin. Wo war seine Magie? Verschwunden! Seine Hände zitterten. Die Zauberworte taumelten in seinem Gedächtnis umher, nur um zu entgleiten, bevor er sie ergreifen konnte. Eine Flammenkugel erschien in den Händen von Fistandantilus. Raistlin röchelte vor Angst. Der Stab! dachte er plötzlich. Der Stab des Magus. Seine Magie ist bestimmt nicht beeinträchtigt! Er hob den Stab, hielt ihn vor sich und forderte ihn auf, ihn zu beschützen. Aber der Stab begann sich in Raistlins Hand zu verbiegen und zu drehen. »Nein!« schrie er vor Angst und Zorn. »Gehorche meinem Befehl! Gehorche!«