»Hexe?« Crysania hob ihren Kopf. »Nein, Herr Ritter. Ich bin keine Hexe. Ich bin eine Klerikerin, eine Klerikerin von Paladin! Schau auf das Medaillon, das ich trage!«
»Du lügst!« rief Sturm heftig. »Es gibt keine Kleriker mehr! Sie sind während der Umwälzung verschwunden. Aber wenn du eine bist, was treibst du dann in der Gesellschaft dieses verruchten Schwarzen?«
»Sturm! Ich bin es doch, Raistlin!« Der Erzmagier erhob sich. »Sieh mich an! Erkennst du mich nicht wieder?«
Der junge Ritter richtete sein Schwert gegen den Magier, und dessen Spitze stieß an Raistlins Kehle. »Ich weiß nicht, auf welchen Zauberwegen du meinen Namen herbeigerufen hast, Schwarze Robe, aber sag ihn nicht noch einmal, sonst wird es dir schlecht ergehen. Wir in Solace machen mit Hexen und Zauberern kurzen Prozeß.«
»Da du ein mutiger und heiliger Ritter bist, gebunden an die Schwüre der Ritterlichkeit und des Gehorsams, bitte ich dich um Gerechtigkeit«, sagte Crysania, die sich mit Raistlins Hilfe langsam aufrichtete.
Das strenge Gesicht des jungen Mannes glättete sich. Er verneigte sich und steckte mit einem erneuten Seitenblick auf Raistlin sein Schwert wieder ein. »Du sprichst wahr, meine Dame. Ich bin an diese Schwüre gebunden, und Gerechtigkeit soll dir gewährt werden.«
Noch während er sprach, wurde aus dem Blätterbett ein Holzboden, die Bäume wurden Bänke, der Himmel eine Zimmerdecke und die Straße ein Gang zwischen den Bänken. Wir sind in der Halle der Gerechtigkeit, erkannte Raistlin, den ein Schwindel über diese plötzliche Veränderung erfaßte. Sein Arm lag noch immer um Crysania, und er half ihr, an einem kleinen Tisch mitten im Raum Platz zu nehmen. Vor ihnen tauchte ein Podest auf. Als Raistlin hinter sich schaute, bemerkte er, daß sich in dem Raum viele Leute drängten, die alle mit Interesse und Vergnügen zusahen.
Er machte große Augen. Er kannte diese Leute! Da war Otik, der Besitzer des Wirtshauses »Zur letzten Bleibe«, der einen Teller mit Würzkartoffeln verspeiste. Da war Tika, deren rote Locken auf und ab hüpften und die auf Crysania zeigte, etwas sagte und lachte. Und Kitiara! Sie stand an den Türrahmen gelehnt, von sie anhimmelnden jungen Männern umgeben, ihre Hand am Knauf ihres Schwertes, und winkte ihm zu.
Raistlin sah sich fieberhaft um. Sein Vater, ein armer Holzfäller, saß in einer Ecke, die Schultern gebeugt, diesen ständigen Blick voll Kummer und Sorge auf seinem Gesicht. Laurana saß abseits, ihre kühle Elfenschönheit glänzte wie ein strahlender Stern in der schwärzesten Nacht.
Neben ihm rief Crysania: »Elistan!« Sie erhob sich und streckte ihre Hand aus, aber der Kleriker sah sie nur traurig und ernst an und schüttelte den Kopf.
»Erhebt euch und erweist Ehre!« ertönte eine Stimme.
Mit viel Geschlurfe und Scharren erhoben sich alle aus den Bänken in der Halle der Gerechtigkeit. Ein respektvolles Schweigen senkte sich über die Menge, als der Richter eintrat. In die grauen Roben von Gilean, dem Herrn der Neutralität, gekleidet, nahm der Richter seinen Platz hinter dem Podium ein und wandte sein Gesicht den Angeklagten zu.
»Tanis!« rief Raistlin und tat einen Schritt nach vorne.
Aber der bärtige Halb-Elf runzelte nur die Stirn über dieses unschickliche Verhalten, während ein mürrischer alter Zwerg – der Gerichtsvollzieher – nach vorne stapfte und mit dem Endstück seiner Streitaxt Raistlin in die Seite stieß. »Setz dich, Hexer, und rede erst, wenn du angesprochen wirst.«
»Flint?« Raistlin packte den Zwerg am Arm. »Kennst du mich denn nicht?«
»Und faß den Gerichtsvollzieher nicht an!« brüllte Flint zornerregt und riß seinen Arm frei. »Pah«, grummelte er, als er zurückstolzierte, um seinen Platz neben dem Richter einzunehmen. »Kein Respekt vor meinem Alter oder meiner Position. Du glaubst wohl, ich bin ein Sack Mehl, den jeder anpacken kann...«
»Es reicht, Flint«, unterbrach Tanis und beäugte Raistlin und Crysania streng. »Also, wer erhebt Anklage gegen diese beiden?«
»Ich«, sagte ein Ritter in glänzender Rüstung und erhob sich.
»Sehr gut, Sturm Feuerklinge«, sagte Tanis, »du wirst Gelegenheit erhalten, deine Anschuldigungen vorzubringen. Und wer verteidigt diese beiden?«
Raistlin wollte aufstehen und antworten, aber er wurde unterbrochen.
»Ich! Hier, Tanis... Ich, hier vorne! Warte. Ich... ich scheine festzustecken...«
Gelächter dröhnte durch die Halle der Gerechtigkeit, die Menge drehte sich um und starrte auf einen Kender, der sich abmühte, mit einem riesigen Bücherstapel durch die Tür zu kommen. Mit einem spöttischen Lächeln streckte Kitiara ihre Hand aus, packte ihn an seinem Haarzopf, zog ihn durch die Tür und schleuderte ihn unsanft auf den Boden. Die Bücher flogen durch die Gegend, und die Menge brüllte vor Lachen. Völlig unberührt rappelte sich der Kender auf, staubte sich ab, stolperte über die Bücher und schaffte es schließlich, vorne anzulangen.
»Ich bin Tolpan Barfuß«, sagte der Kender und wollte Raistlin seine kleine Hand reichen. Der Erzmagier starrte Tolpan verwundert an und rührte sich nicht. Mit einem Schulterzucken schaute Tolpan auf seine Hand, seufzte, wandte sich um und ging zum Richter. »Hallo, mein Name ist Tolpan Barfuß...«
»Setz dich!« brüllte der Zwerg. »Dem Richter schüttelst du nicht die Hand, du Türknopf!«
»Na ja«, antwortete Tolpan beleidigt. »Ich denke, ich könnte, wenn ich wollte. Ich bin schließlich höflich, etwas, wovon ihr Zwerge keine Ahnung habt. Ich...«
»Setz dich und halt den Mund!« schrie der Zwerg und schlug mit dem Endstück seiner Axt auf den Boden.
Mit tanzendem Haarzopf wandte sich der Kender ab, ging gehorsam zurück und setzte sich neben Raistlin. Aber bevor er Platz nahm, sah er zu den Zuschauern hinüber und ahmte den mürrischen Blick des Zwergen so gut nach, daß die Menge vor Schadenfreude grölte, was den Zwerg noch zorniger machte. Aber jetzt mischte sich der Richter ein.
»Ruhe«, rief Tanis streng, und die Menge verstummte.
Tolpan ließ sich neben Raistlin plumpsen. Der Magier, der eine sanfte Berührung spürte, funkelte den Kender an und streckte seine Hand aus.
»Gib das zurück!« verlangte er.
»Was zurück? Oh, das? Gehört dir das? Du mußt es fallen gelassen haben«, erwiderte Tolpan unschuldig und reichte Raistlin einen seiner Beutel mit Zauberzutaten. »Ich fand ihn auf dem Boden...«
Raistlin riß dem Kender den Beutel aus der Hand und befestigte ihn wieder an der Kordel um seine Taille.
»Du könntest dich wenigstens bedanken«, bemerkte Tolpan mit schrillem Flüsterton. Doch dann verstummte er, als er den strengen Blick des Richters erhaschte.
»Wie lauten die Anklagen gegen diese beiden?« fragte Tanis.
Sturm Feuerklinge trat vor. Es gab vereinzelten Applaus. Der junge Ritter mit seinen hohen Wertmaßstäben und seiner melancholischen Miene war offensichtlich beliebt.
»Ich fand diese zwei in der Wildnis, Euer Ehren. Der Schwarzgekleidete nannte den Namen von Paladin« – aus der Menge kam wütendes Gemurmel – »und während ich noch zusah, braute er ein übles Getränk zusammen und gab es der Frau zu trinken. Sie war schwerverletzt. Blut bedeckte ihre Robe, und ihr Gesicht war verbrannt und vernarbt, als wäre sie einem Brand zum Opfer gefallen. Aber nachdem sie dieses Hexengebräu getrunken hatte, war sie geheilt!«
»Nein!« rief Crysania und erhob sich unsicher. »Das stimmt nicht. Jener Trank, den mir Raistlin gab, hat lediglich meinen Schmerz gelindert. Es waren meine Gebete, die mich heilten! Ich bin eine Klerikerin von Paladin...«
»Entschuldigt, Euer Ehren«, kreischte der Kender und sprang auf die Füße. »Meine Klientin gedachte nicht zu sagen, daß sie eine Klerikerin von Paladin ist. Eine Pantomime vorführen, das ist, was sie gemeint hat. Ja, das ist es.« Tolpan kicherte. »Nur ein wenig Spaß haben, um die Reise lustiger zu gestalten. Es ist ein Spiel, das alle ständig spielen. Ha, ha.« Er wandte sich an Crysania, runzelte die Stirn und flüsterte in einer Lautstärke, daß es alle im Saal hören konnten: »Was machst du denn? Wie soll ich dich hier überhaupt rausbekommen, wenn du herumläufst und die Wahrheit sagst! Ich würde das gar nicht erst zur Spache bringen!«