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Raistlin trat näher. Er kniete sich auf die noch warme Asche und drehte die Gestalt auf die andere Seite. »Crysania«, murmelte er.

»Raistlin?« Ihr Gesicht war schrecklich verbrannt, und blinde Augen starrten ins Leere. Sie hielt ihm eine Hand entgegen, die nichts weiter war als eine geschwärzte Klaue. »Raistlin?« Sie stöhnte vor Qual.

Seine Hand schloß sich um ihre. »Ich kann nicht sehen!« wimmerte sie. »Alles ist dunkel! Bist du es?«

»Ja«, antwortete er.

»Raistlin, ich habe versagt...«

»Nein, Crysania, das hast du nicht«, antwortete er, und seine Stimme war kühl und gleichmäßig. »Ich bin unverletzt. Meine Magie ist jetzt stark, stärker als je zuvor in allen Zeiten, in denen ich lebte. Ich werde jetzt weitergehen und die Dunkle Königin besiegen.«

Ihre gesprungenen und mit Blasen bedeckten Lippen teilten sich zu einem Lächeln. Die Hand, die Raistlin hielt, festigte ihren Griff. »Dann wurden meine Gebete erhört.« Sie würgte, und ein Schmerzenskrampf zuckte durch ihren Körper. Als sie dann wieder Atem schöpfen konnte, flüsterte sie etwas. Raistlin beugte sich näher zu ihr. »Ich sterbe, Raistlin. Ich bin unerträglich geschwächt. Bald wird Paladin mich zu sich nehmen. Bleib bei mir, Raistlin. Bleib bei mir, während ich sterbe...«

Raistlin sah auf die erbärmlichen Überreste der Frau hinab. Und als er ihre Hand hielt, kam ihm unvermittelt eine Vision, wie er sie im Wald in der Nähe von Kargod gesehen hatte, als er beinahe die Kontrolle über sich selbst verloren und sie genommen hätte – ihre weiße Haut, ihr seidenweiches Haar, ihre glänzenden Augen. Er erinnerte sich an die Liebe in ihren Augen, er erinnerte sich, wie eng er sie in seinen Armen gehalten hatte, er erinnerte sich, daß er ihre glatte Haut geküßt hatte...

Jede einzelne Erinnerung verbrannte Raistlin hintereinander in seinem Gedächtnis. Er setzte sie mit seiner Magie in Brand und sah zu, wie sie sich zu Asche verwandelten und vom Rauch weggeblasen wurden. Mit seiner anderen Hand befreite er sich aus ihrer Umklammerung.

»Raistlin!« schrie sie, und ihre Hand griff entsetzt ins Leere.

»Du hast meinem Zweck gut gedient, Verehrte Tochter«, sagte Raistlin, und seine Stimme klang so glatt und kalt wie die silberne Klinge des Dolches, den er an seinem Handgelenk trug. »Die Zeit drängt. Schon jetzt kommen jene dem Portal in Palanthas immer näher, um mir Einhalt zu gebieten. Ich muß jetzt die Königin herausfordern und meine letzte Schlacht mit ihren Lakaien austragen. Aber nach meinem Sieg muß ich zum Portal zurückkehren und es betreten, bevor es jemandem gelingt, mich aufzuhalten.«

»Raistlin, verlaß mich nicht! Bitte, laß mich nicht allein in der Dunkelheit!«

Raistlin stützte sich auf den Stab des Magus, der jetzt in einem hellen, leuchtenden Licht strahlte, und richtete sich auf. »Leb wohl, Verehrte Tochter«, sagte er mit einem sanften, zischenden Flüstern. »Ich brauche dich jetzt nicht mehr.«

Crysania hörte das Raschem seiner schwarzen Roben, als er verschwand. Sie hörte den Stab des Magus nicht aufschlagen. Durch den erstickenden, beißenden Geruch von Rauch und verbranntem Fleisch konnte sie auch den schwachen Duft von Rosenblättern riechen...

Und dann herrschte vollkommene Stille. Sie wußte, daß er gegangen war.

Sie war allein, und ihr Leben strömte aus ihren Venen, so wie ihre Illusionen langsam verströmten.

»Wenn du wieder einmal deutlich sehen wirst, Crysania, wirst du von der Dunkelheit blind sein... von unendlicher Dunkelheit.«

So hatte ihr Loralon, der Elfenkleriker, vor dem Untergang Istars prophezeit. Crysania wollte weinen, aber das Feuer hatte die Quelle ihrer Tränen verbrannt.

»Jetzt sehe ich«, flüsterte sie in der Dunkelheit. »Ich sehe so deutlich! Ich habe mich selbst getäuscht! Ich habe ihm nichts bedeutet – ich war nur eine Spielfigur, die er auf dem Brett seines großen Spiels herumschiebt, so wie es ihm beliebt. Und selbst als er mich benutzt hat – habe doch ich ihn benutzt!« Sie stöhnte. »Ich benutzte ihn, um meinen Stolz, meinen Ehrgeiz zu befriedigen! Meine Dunkelheit hat seine eigene verstärkt! Er ist verloren, und ich habe ihn in seinen eigenen Untergang geführt! Denn wenn er jetzt die Dunkle Königin besiegt, dann nur, um ihren Platz einzunehmen!«

Sie starrte zum Himmel hoch, den sie nicht sehen konnte, und schrie auf vor Qual. »Das habe ich getan, Paladin! Ich habe dieses Übel über mich gebracht und über die Welt! Aber, o mein Gott, welch größeres Übel habe ich über ihn gebracht!«

Dort in der ewigen Dunkelheit weinte Crysanias Herz alle Tränen, die ihre Augen nicht mehr weinen konnten. »Ich liebe dich, Raistlin«, murmelte sie. »Ich konnte es dir niemals sagen. Ich konnte es mir selbst nicht eingestehen.« Sie warf ihren Kopf umher, ergriffen von einem Schmerz, der sie tiefer versengte als alle Flammen. »Aber was hätte es geändert, wenn ich es gesagt hätte?«

Der Schmerz ließ nach. Es schien ihr, als glitte sie weg. Und sie begann die Gewalt über ihr Bewußtsein zu verlieren.

Gut, dachte sie erschöpft. Ich sterbe. Laß den Tod schnell kommen und meine bittere Qual beenden.

Sie holte Atem. »Paladin, verzeih mir«, murmelte sie.

Noch ein Atemzug: »Raistlin...«

Ein weiterer, schwächerer Atemzug: »Verzeih...«

15

Tanis stand außerhalb des Tempels und dachte über die Worte des alten Zauberers nach. Dann räusperte er sich. Die Liebe muß triumphieren!

Er wischte seine Tränen weg und schüttelte verbittert den Kopf. Fizbans Magie würde dieses Mal nicht funktionieren. Die Liebe spielte in diesem Spiel nicht die allerkleinste Rolle. Raistlin hatte vor langer Zeit die Liebe seines Zwillingsbruders für seine eigenen Zwecke verzerrt und mißbraucht und Caramon schließlich als aufgedunsene Masse schwabbeligen Fleisches und Zwergenschnapses zurückgelassen. Marmor verfügte eher über die Fähigkeit zur Liebe als diese steinerne Jungfrau Crysania. Und was Kitiara betraf... Hatte sie jemals geliebt?

Tanis zog ein finsteres Gesicht. Eigentlich wollte er nicht an sie denken, nicht schon wieder. Aber jeder Versuch, die Erinnerungen an sie in den dunklen Verliesen seiner Seele zu verschließen, ließ das Licht nur noch heller über sie scheinen. Er ertappte sich dabei, daß er an die Zeit zurückdachte, als sie sich in der Nähe von Solace in der Wildnis kennengelernt hatten. Tanis hatte eine junge Frau entdeckt, die gegen Goblins um ihr Leben kämpfte, und war zu ihrer Rettung geeilt – nur um zu erfahren, daß sich die junge Frau im Zorn gegen ihn wandte und ihn beschuldigte, ihr den Spaß verdorben zu haben!

Tanis war von ihr gefesselt. Bis dahin hatte seine Liebe ausschließlich einem zierlichen Elfenmädchen, Laurana, gegolten. Aber das war eine kindliche Romanze gewesen. Er und Laurana waren zusammen aufgewachsen, denn ihr Vater hatte den Mischling aus Barmherzigkeit aufgenommen, als seine Mutter bei der Geburt gestorben war. Lauranas mädchenhafte Vernarrtheit in Tanis – eine Liebe, die ihr Vater niemals gebilligt hätte – war tatsächlich teilweise der Grund, daß der Halb-Elf seine Elfenheimat verlassen hatte und mit dem alten Flint, dem Zwergenschmied, durch die Welt gezogen war.

Tanis hatte zuvor niemals eine Frau wie Kitiara getroffen – kühn, mutig, schön und sinnlich. Sie machte kein Geheimnis aus der Tatsache, daß sie den Halb-Elfen bei ihrer ersten Begegnung attraktiv gefunden hatte. Eine verspielte Schlacht zwischen ihnen endete in einer leidenschaftlichen Nacht unter Kitiaras Felldecken. Danach waren die beiden oft zusammen und reisten gemeinsam oder in Begleitung ihres Freundes Sturm Feuerklinge und von Kitiaras Halbbrüdern Caramon und Raistlin.

Als Tanis sich selbst seufzen hörte, schüttelte er wütend den Kopf. Nein! Er nahm all diese Gedanken, schleuderte sie in die Dunkelheit zurück, verschloß und verriegelte die Tür. Kitiara hatte ihn niemals geliebt. Er hatte sie amüsiert, mehr nicht. Er hatte sie unterhalten. Als sich die Gelegenheit bot, das zu bekommen, was sie wirklich wollte – Macht —, hatte sie ihn verlassen, ohne noch einen Gedanken an ihn zu verlieren. Aber während er noch den Schlüssel zu den Verliesen seiner Seele umdrehte, hörte Tanis wieder Kitiaras Stimme. Er hörte die Worte, die sie in der Nacht des Niedergangs der Königin der Finsternis gesprochen hatte, der Nacht, in der Kitiara ihm und Laurana zur Flucht verholten hatte.