»Leb wohl, Halb-Elf. Vergiß nicht, ich tue dies aus Liebe zu dir!«
Eine dunkle Gestalt, wie die Verkörperung seines eigenen Schattens, tauchte neben Tanis auf. Der Halb-Elf zuckte in einer plötzlichen, unvernünftigen Angst zusammen, daß er vielleicht ein Bild seines eigenen Unbewußten heraufbeschworen hatte. Aber die Gestalt grüßte ihn, und Tanis erkannte, daß sie aus Fleisch und Blut war. Er seufzte erleichtert auf und hoffte, daß dem Dunkelelfen nicht aufgefallen war, wie geistesabwesend er gewesen war. Tatsächlich hatte er Angst, daß Dalamar seine Gedanken geahnt haben könnte. Er räusperte sich mürrisch und sah den schwarzgekleideten Magier an.
»Ist Elistan...«
»Tot?« fragte Dalamar kalt. »Nein, noch nicht. Aber ich habe das Nahen einer Person gespürt, deren Anwesenheit ich recht unbehaglich finden würde, und da meine Dienste nicht länger erforderlich waren, bin ich gegangen.«
Tanis hielt auf dem Rasen ein und drehte sich, um dem Dunkelelfen ins Gesicht zu sehen. Dalamar hatte seine schwarze Kapuze nicht heruntergezogen, und seine Gesichtszüge waren im friedlichen Zwielicht deutlich sichtbar. »Warum hast du das getan?« wollte Tanis wissen.
Auch der Dunkelelf blieb stehen und betrachtete Tanis mit einem leichten Lächeln. »Was getan?«
»Daß du zu Elistan gegangen bist! Um seinen Schmerz zu lindern?« Tanis machte eine weite Handbewegung. »Wie ich beim letzten Mal erlebt habe, läßt dich das Betreten dieses Bodens die Qualen eines Verdammten erleiden.« Sein Gesicht wurde grimmig. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Schüler von Raistlin sich so sehr um jemanden sorgt.«
»Das ist wahr«, erwiderte Dalamar ruhig. »Raistlins Schüler gibt persönlich nicht die wertloseste Münze dafür, was aus dem Kleriker wird. Aber Raistlins Schüler ist rechtschaffen. Er wurde unterwiesen, seine Schulden zu zahlen, unterwiesen, niemandem verpflichtet zu sein. Steht das im Einklang mit dem, was du über meinen Meister weißt?«
»Ja«, gab Tanis widerwillig zu, »aber...«
»Ich habe eine Schuld zurückgezahlt, weiter nichts«, erklärte Dalamar. Als er seinen Weg über den Rasen fortsetzte, sah Tanis wieder den Ausdruck von Schmerzen auf seinem Gesicht. Der Dunkelelf wollte offensichtlich diesen Ort so schnell wie möglich verlassen. Tanis hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. »Weißt du«, fuhr Dalamar fort, »Elistan ist einmal in den Turm der Erzmagier gekommen, um meinem Meister zu helfen.«
»Um Raistlin zu helfen?« Tanis hielt wieder an. Er war sprachlos. Dalamar blieb jedoch nicht stehen, und Tanis war gezwungen, ihm nachzueilen.
»Ja«, sagte der Dunkelelf, der sich wenig darum kümmerte, ob Tanis ihn hörte oder nicht, »niemand weiß davon, nicht einmal Raistlin selber. Der Meister wurde vor ungefähr einem Jahr krank, sehr krank. Ich war allein und verängstigt. Ich wußte nichts über Krankheiten. In meiner Verzweiflung bat ich Elistan zu kommen, und er kam.«
»Hat... hat er... Raistlin geheilt?« fragte Tanis staunend.
»Nein.« Dalamar schüttelte den Kopf. Sein langes schwarzes Haar fiel über seine Schultern. »Raistlins Krankheit ist jenseits aller Heilkünste, ein Opfer, das er für seine Magie gebracht hat. Aber Elistan war in der Lage, die Schmerzen des Meisters zu lindern und ihm Ruhe zu geben. Und darum habe ich nichts weiter getan, als meine Schuld zurückzuzahlen.«
»Sorgst... sorgst du dich um Raistlin so sehr?« fragte Tanis zögernd.
»Was soll dieses Gerede über Sorge, Halb-Elf?« murmelte Dalamar ungeduldig. Sie hatten fast den Rand des Rasens erreicht. Die Abendschatten breiteten sich über ihn wie besänftigende Finger und streckten sich sanft aus, um die Augen der Erschöpften zu schließen. »Wie Raistlin kümmert mich nur eine Sache – und das ist die Kunst und die Macht, die sie verleiht. Dafür habe ich mein Volk aufgegeben, meine Heimat, mein Erbe. Dafür werde ich in die Dunkelheit verbannt. Raistlin ist der Meister, mein Lehrer, mein Meister. Er ist in der Kunst geübt, einer der Geübtesten, die jemals gelebt haben. Als ich mich der Versammlung freiwillig zur Verfügung stellte, ihn auszuspionieren, wußte ich, daß ich mein Leben opfern würde. Aber wie gering ist der Preis für die Gelegenheit, bei einem so Begabten zu lernen! Wie konnte ich es mir leisten, ihn zu verlieren? Selbst jetzt, wenn ich daran denke, was ich ihm antun muß, und wenn ich an sein Wissen denke, das bei seinem Tod verloren geht, würde ich fast...«
»Fast was?« fragte Tanis scharf in plötzlicher Angst. »Ihn fast durch das Portal lassen? Kannst du ihn wirklich aufhalten, wenn er zurückkommt, Dalamar? Wirst du ihn aufhalten?«
Sie hatten die Grenze des Tempelanwesens erreicht. Sanfte Dunkelheit legte sich über das Land. Die Nacht war warm und mit den Düften neuen Lebens erfüllt. Hier und dort zwitscherte zwischen den Espen verschlafen ein Vogel. In der Stadt wurden brennende Kerzen in die Fenster gestellt, um die Lieben nach Hause zu führen. Solinari glimmerte am Horizont, als ob die Götter ihre eigene Kerze angezündet hätten, um die Nacht zu erhellen. Tanis’ Augen wurden von dem Fleck eisiger Schwärze inmitten der warmen, duftenden Abendluft angezogen. Der Turm der Erzmagier erhob sich düster und unheilvoll. In seinen Fenstern flackerten keine Kerzen. Er fragte sich kurz, wer oder was in dieser Schwärze wartete, um den jungen Lehrling willkommen zu heißen.
»Ich erzähle dir von den Portalen, Halb-Elf«, erwiderte Dalamar. »Ich werde dir erzählen, was mein Meister mir erzählt hat.« Seine Augen folgten Tanis’ Blick und glitten zum obersten Zimmer im Turm. Als er dann sprach, war seine Stimme leise: »Dort oben befindet sich in einer Ecke des Laboratoriums eine Tür, eine Tür ohne Schloß. Fünf Drachenköpfe aus Metall umgeben sie. Wenn du darauf siehst, wirst du nichts erkennen – einfach nichts. Die Drachenköpfe sind kalt und still. Das ist das Portal. Außer diesem existiert noch eins – es befindet sich im Turm der Erzmagier in Wayreth. Das einzige andere, soweit uns bekannt ist, war in Istar und wurde während der Umwälzung zerstört. Das Portal in Palanthas wurde damals aus Sicherheitsgründen zur magischen Festung Zaman gebracht, als der Mob des Königspriesters versuchte, den Turm zu übernehmen. Es kehrte wieder nach Palanthas zurück, als Fistandantilus Zaman zerstörte. Vor langer, langer Zeit von Magiern geschaffen, die schnellere Kommunikationswege untereinander wünschten, führten die Portale zu weit – sie führten sie zu anderen Ebenen.«
»In die Hölle«, murmelte Tanis.
»Ja. Zu spät erkannten die Magier, was für eine gefährliche Pforte sie ersonnen hatten. Denn wenn jemand von dieser Ebene die Hölle betritt und durch das Portal zurückkehrt, erhält die Königin der Finsternis Einlaß in diese Welt, was sie schon so lange begehrt. Folglich stellten die Magier mit Hilfe der heiligen Kleriker von Paladin sicher – so hofften sie zumindest —, daß niemand die Portale jemals zu benutzen vermag.
Nur ein Mensch von tiefgründiger Bösartigkeit, der seine Seele selbst der Dunkelheit verschrieben hat, könnte hoffen, das erforderliche Wissen zu erhalten, um diese schreckliche Tür zu öffnen. Und nur jemand mit Güte und Reinheit, mit völligem Vertrauen in jene Person auf dieser Welt, die niemals Vertrauen verdient hat, könnte die Tür offenhalten.«
»Raistlin und Crysania.«
Dalamar lächelte zynisch. »In ihrer unendlichen Weisheit haben diese vertrockneten alten Magier und Kleriker niemals vorausgesehen, daß die Liebe ihren großen Plan umwerfen könnte. Du siehst also, Halb-Elf, wenn Raistlin versucht, das Portal von der Hölle aus wieder zu durchschreiten, muß ich ihn aufhalten. Denn die Königin wird direkt hinter ihm stehen.«
Nichts an Dalamars Erklärung zerstreute Tanis’ Zweifel. Gewiß schien sich der Dunkelelf der großen Gefahr bewußt zu sein. Gewiß wirkte er ruhig und zuversichtlich... »Aber kannst du ihn aufhalten?« drängte Tanis, und sein Blick fuhr – ohne es zu wollen – zur Brust des Dunkelelfen, wo er die fünf Löcher gesehen hatte, die in die glatte Haut gebrannt waren.