Dalamar bemerkte Tanis’ Blick und bewegte seine Hand unwillkürlich an seine Brust. Seine Augen wurden dunkel und gehetzt. »Ich kenne meine Grenzen, Halb-Elf«, sagte er leise. Dann lächelte er und zuckte die Achseln. »Ich will offen zu dir sein. Falls mein Meister die volle Kraft seiner Macht erreicht haben sollte, wenn er versucht, wieder durch das Portal zu kommen, dann kann ich ihn nicht aufhalten. Niemand könnte das. Aber das wird nicht der Fall sein. Er wird bereits einen Großteil seiner Macht verbraucht haben, wenn die Lakaien der Königin vernichtet sind. Er wird geschwächt und verletzt sein. Seine einzige Hoffnung ist, die Dunkle Königin auf seine Ebene herauszulocken. Hier kann er seine Kraft wiedererlangen, hier wird sie die Schwächere sein. Und folglich, ja, weil er verletzt sein wird, kann ich ihn aufhalten. Und ja, ich werde ihn aufhalten!«
Als er den immer noch zweifelnden Blick Tanis’ sah, verzerrte sich Dalamars Lächeln. »Verstehst du, Halb-Elf«, sagte er kühl. »Mir wurde genug angeboten, so daß es die Mühe wert ist.« Damit verbeugte er sich, murmelte einen Zauberspruch und verschwand.
Aber als er aufbrach, hörte Tanis Dalamars weiche Elfenstimme durch die Nacht tönen: »Du hast zum letzten Mal die Sonne gesehen, Halb-Elf. Raistlin und die Dunkle Königin haben sich getroffen. Takisis sammelt nun ihre Lakaien um sich. Die Schlacht beginnt. Morgen wird es keinen Sonnenaufgang geben.«
16
»Und so treffen wir uns wieder, Raistlin.«
»Meine Königin.«
»Du verneigst dich vor mir, Zauberer?«
»Dieses letzte Mal erweise ich Euch diese Ehre.«
»Und ich verneige mich vor dir, Raistlin.«
»Ihr gewährt mir zuviel Ehre, Majestät.«
»Im Gegenteil, ich habe dein Spiel mit äußerstem Vergnügen verfolgt. Zu jedem Zug von mir hast du einen Gegenzug gekannt. Mehr als einmal hast du alles in einem Zug aufs Spiel gesetzt, um zu gewinnen. Du hast dich als geschickter Spieler erwiesen, und unser Spiel hat mir sehr viel Vergnügen bereitet. Aber jetzt neigt es sich dem Ende zu, mein ebenbürtiger Gegner. Du hast nur noch eine Spielfigur auf dem Brett übriggelassen – dich selbst. Gegen dich ist die volle Macht meiner schwarzen Legionen aufgestellt. Aber weil ich Gefallen an dir gefunden habe, Raistlin, will ich dir eine Gunst gewähren... Kehre zu deiner Klerikerin zurück. Sie liegt im Sterben, allein, und erleidet solche Qualen an Geist und Körper, wie nur ich sie herbeiführen kann. Kehre zu ihr zurück. Knie dich neben sie. Nimm sie in deine Arme und halte sie eng an dich. Der Mantel des Todes wird über euch beide fallen. Sanft wird er euch bedecken und euch in die Dunkelheit treiben, wo ihr ewige Ruhe findet.«
»Meine Königin...«
»Du schüttelst den Kopf?«
»Takisis, Große Königin, ich danke Euch herzlich für dieses gnädige Angebot. Aber ich spiele dieses Spiel – wie Ihr es bezeichnet —, um zu gewinnen. Und ich werde es zu Ende spielen.«
»Und es wird ein bitteres Ende nehmen – für dich! Ich habe dir die Möglichkeit gegeben, die du aufgrund deiner Fähigkeit und deines Mutes verdient hast. Du verschmähst sie?«
»Eure Majestät, Ihr seid zu großzügig. Ich bin dieser Aufmerksamkeit nicht würdig.«
»Und jetzt verhöhnst du mich! Lächle dein verzerrtes Lächeln, solange du kannst, Magier. Denn wenn du stolperst, wenn du fällst, wenn du nur den kleinsten Fehler begehst – werde ich Hand an dich legen. Meine Nägel werden sich in dein Fleisch graben, und du wirst um den Tod betteln. Aber er wird nicht kommen. Die Tage sind hier äonenlang, Raistlin Majere. Und jeden Tag werde ich dich in deinem Gefängnis besuchen – dem Gefängnis deines Geistes. Und da du mich belustigt und unterhalten hast, wirst du mich auch weiterhin belustigen und unterhalten. Du wirst an Geist und Körper gefoltert werden. Und am Ende jeden Tages wirst du an deinen Schmerzen sterben. Und zu Beginn jeder Nacht werde ich dich zum Leben erwecken. Du wirst nicht schlafen können, sondern in bebender Vorerwartung, was der nächste Tag bringen wird, wach liegen. Und morgens wird dein erster Anblick mein Gesicht sein... Was? Du wirst blaß, Magier. Dein zerbrechlicher Körper zittert, deine Hände beben. Deine Augen werden groß vor Angst. Wirf dich mir zu Füßen! Bitte mich um Vergebung!«
»Meine Königin...«
»Was, immer noch nicht auf den Knien?«
»Meine Königin... es ist Euer Zug.«
17
»Verdammt bewölkt! Falls sich ein Gewitter zusammenbraut, wünsche ich, daß es kommt und damit auch erledigt ist«, murmelte Fürst Gunther.
Etwas viel Wind, dachte Tanis sarkastisch, aber er behielt seine Gedanken für sich. Er behielt auch Dalamars Worte für sich, da er wußte, daß Fürst Gunther ihnen sowieso keinen Glauben schenken würde. Der Halb-Elf war nervös und gereizt. Es fiel ihm schwer, dem anscheinend gelassenen Ritter gegenüber die Ruhe zu bewahren. Teilweise lag es an dem seltsam aussehenden Himmel. Wie Dalamar vorausgesagt hatte, war an diesem Morgen die Sonne nicht aufgegangen. Statt dessen hingen rötlichblaue, grün angehauchte Wolken brodelnd und schäumend am Himmel, zwischen denen schaurige vielfarbene Blitze zuckten. Es war völlig windstill. Kein Regen fiel. Der Tag wurde heiß und drückend. Die mit schweren Plattenpanzern gerüsteten Ritter, die auf den Zinnen des Turms des Oberklerikers ihre Rundgänge machten, wischten sich den Schweiß von der Stirn und murmelten etwas von Frühlingsstürmen.
Noch zwei Stunden zuvor war Tanis in Palanthas gewesen, hatte sich auf den Seidenlaken seines Bettes in Herrscher Amothuds Gästezimmer gedreht und gewälzt und über Dalamars rätselhafte letzte Worte gegrübelt. Der Halb-Elf hatte fast die ganze Nacht damit verbracht, über sie und auch über Elistan nachzudenken.
Kurz vor Mitternacht hatte die Nachricht den Palast erreicht, daß der Kleriker von Paladin aus dieser Welt in ein anderes, strahlenderes Reich getreten war. Er war friedlich gestorben, den Kopf in die Arme eines verwirrten, liebenswerten alten Zauberers gebettet, der auf mysteriöse Weise aufgetaucht und genauso mysteriös wieder verschwunden war. Voller Sorge um Dalamars Warnung, voller Trauer um Elistan, voller Gedanken darüber, daß er schon so viele sterben gesehen hatte, war Tanis gerade erschöpft in den Schlaf gefallen, als ein Bote für ihn ankam.
»Deine Anwesenheit unverzüglich erforderlich. Turm des Oberklerikers – Fürst Gunther Uth Wistan.«
Tanis erfrischte mit kaltem Wasser sein Gesicht, wies die Versuche eines Dieners des Herrschers Amothud ab, sich in seine Lederrüstung helfen zu lassen, zog sich an, lehnte auch Charles’ Angebot zum Frühstück höflich ab und taumelte aus dem Palast. Draußen erwartete ihn ein junger bronzener Drache, der sich als Feuerblitz vorstellte, sein geheimer Name war Khirsah.
»Ich kenne zwei Freunde von dir, Tanis, Halb-Elf«, erzählte der junge Drache, während seine starken Flügel sie mühelos über die Mauern der schlafenden Stadt trugen. »Ich hatte die Ehre, in der Schlacht am Vingaard-Gebirge zu kämpfen, und trug den Zwerg Flint Feuerschmied und den Kender Tolpan Barfuß in den Kampf.«
»Flint ist tot«, sagte Tanis mit schwerer Stimme und rieb sich die Augen. Zu viele hatte er sterben gesehen.
»Das habe ich gehört«, erwiderte der junge Drache respektvoll. »Und es hat mir leid getan. Aber er führte ein reiches, erfülltes Leben. Für solch einen kommt der Tod als letzte Ehre.«
Sicher, dachte Tanis müde. Und was ist mit Tolpan, dem glücklichen, gutmütigen, gutherzigen Kender, der vom Leben nichts weiter erwartete als Abenteuer und einen Beutel voller Wunder? Wenn es stimmte, daß Raistlin ihn getötet hatte, wie Dalamar andeutete – welche Ehre lag dann in seinem Tod? Und Caramon, armer, betrunkener Caramon – erlitt er den Tod durch die Hände seines Zwillingsbruders als letzte Ehre, oder war es der endgültige Messerhieb, um sein Elend zu beenden?