Grübelnd schlief Tanis auf dem Rücken des Drachen ein und wurde erst wach, als Khirsah am Turm des Oberklerikers landete. Als er sich grimmig umschaute, wurde Tanis’ Laune auch nicht besser. Er war mit den Gedanken an Tod geritten, nur um auch hier auf Gedanken an den Tod zu treffen, denn hier war Sturm beerdigt – auch eine letzte Ehre.
Tanis war daher in düsterer Stimmung, als er in die Gemächer von Fürst Gunther geführt wurde, die sich hoch oben im Turm befanden. Sie boten einen hervorragenden Ausblick auf den Himmel und das Land. Als Tanis aus dem Fenster starrte und die Wolken ahnungsvoll als unheilvolles Omen beobachtete, wurde er sich nur allmählich bewußt, daß Fürst Gunther eingetreten war und ihn ansprach.
»Ich bitte um Verzeihung, Fürst«, murmelte er und drehte sich um.
»Tarbäischen Tee?« fragte Fürst Gunther und hielt einen dampfenden Becher mit dem bitter schmeckenden Getränk hoch.
»Ja, danke.« Tanis nahm das Getränk an und schluckte es hinunter. Er begrüßte die Wärme, die sich in seinem Körper ausbreitete, und überging die Tatsache, daß er sich die Zunge verbrannt hatte.
Fürst Gunther hatte sich zu Tanis ans Fenster gestellt, starrte hinaus in den Sturm und nippte mit einer Ruhe an seinem Tee, die den Halb-Elfen zu dem geheimen Wunsch verleitete, den Schnurrbart des Ritters zu packen.
Warum hast du mich rufen lassen? kochte Tanis innerlich. Aber er wußte, daß der Ritter auf dem jahrhundertealten Ritual der Höflichkeit bestehen würde, bevor er zum Punkt kam.
»Hast du von Elistan gehört?« fragte Tanis schließlich.
Gunther nickte . »Ja, wir haben es heute früh erfahren. Die Ritter werden zu seinen Ehren eine Zeremonie hier im Turm abhalten... wenn es uns erlaubt ist.«
Tanis verschluckte sich am Tee. Nur ein Grund konnte die Ritter von einer Zeremonie zu Ehren eines Klerikers des Gottes Paladin abhalten – Krieg. »Erlaubt? Habt ihr Neuigkeiten erhalten? Neuigkeiten aus Sanction? Was ist mit den Spionen...«
»Unsere Spione wurden ermordet«, sagte Lord Gunther.
Tanis wandte sich vom Fenster ab. »Was? Wie...«
»Ihre verstümmelten Leichen wurden gestern abend von schwarzen Drachen zur Festung Solanthas gebracht und in den Hof geworfen. Dann kam dieser seltsame Sturm auf – perfekte Deckung für Drachen und...« Lord Gunther verstummte und starrte mit finsterem Blick aus dem Fenster.
»Drachen und was?« verlangte Tanis zu wissen. Eine Ahnung begann in seinem Geist Gestalt anzunehmen. Heißer Tee ergoß sich über seine zitternde Hand. Hastig stellte er den Becher auf die Fensterbank.
Gunther zog an seinem Schnurrbart, und sein Blick wurde finsterer. »Seltsame Berichte haben uns erreicht, zuerst aus Solanthas, dann aus Vingaard.«
»Was für Berichte. Hat man etwas gesehen? Was?«
»Sie haben nichts gesehen. Es geht darum, was sie gehört haben. Seltsame Geräusche aus den Wolken – oder vielleicht über den Wolken.«
Tanis’ Gedanken glitten zu Flußwinds Beschreibung der Belagerung von Kalaman. »Drachen?«
Gunther schüttelte den Kopf. »Stimmen, Gelächter, Türen, die geöffnet und zugeschlagen werden, Gepolter, Knarren...«
»Ich wußte es!« Tanis’ geballte Faust schlug auf das Fensterbrett. »Ich wußte, daß Kitiara einen Plan hat! Natürlich! Das muß es sein!« Düster starrte er auf die schäumenden Wolken. »Eine fliegende Zitadelle!«
Neben ihm seufzte Gunther schwer auf. »Ich habe dir gesagt, daß ich diese Drachenfürstin hoch schätze, Tanis. Offensichtlich habe ich sie nicht hoch genug eingeschätzt. Mit einem Schlag hat sie ihre Probleme mit Truppenbewegung und Logistik gelöst. An Versorgungslinien hat sie keinen Bedarf, sie führt den Nachschub mit sich. Der Turm des Oberklerikers wurde zur Verteidigung gegen Landangriffe gebaut. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir uns gegen eine fliegende Zitadelle behaupten können. In Kalaman sind Drakonier von der Zitadelle gesprungen, auf ihren Flügeln herabgeschwebt und haben den Tod in die Straßen gebracht. Schwarzgekleidete Zauberkundige schleuderten Flammenkugeln hinab, und bei ihr sind natürlich die bösen Drachen.
Ich hege natürlich keinen Zweifel daran, daß die Ritter die Festung gegen die Zitadelle halten können«, fügte Gunther ernst hinzu. »Aber die Schlacht wird härter, als ich angenommen habe. Ich habe unsere Strategie korrigiert. Kalaman hat den Angriff der Zitadelle überlebt, weil sie abgewartet haben, bis die meisten Soldaten abgesprungen waren, und dann haben die guten Drachen bewaffnete Männer zur Zitadelle geflogen und sie in ihre Gewalt gebracht. Wir werden natürlich die meisten Ritter hier in der Festung lassen, um die Drakonier zu bekämpfen, die sich auf uns herabstürzen werden. Ungefähr hundert Männer mit bronzenen Drachen stehen bereit, um hochzufliegen und den Angriff auf die fliegende Zitadelle zu starten.«
Das war sinnvoll, gestand sich Tanis ein. Die Schlacht in Kalaman war ähnlich verlaufen, wie Flußwind ihm erzählt hatte. Aber Tanis wußte auch, daß sie dort keineswegs in der Lage gewesen waren, die Zitadelle zu halten. Man hatte sie nur vertreiben können. Kitiaras Soldaten hatten die Schlacht in Kalaman aufgegeben und ihre Zitadelle zurückerobert und wieder nach Sanction gebracht, wo Kitiara sie offensichtlich zum erneuten Einsatz in Gang gesetzt hatte.
Er wollte gerade darauf hinweisen, als er von Fürst Gunther unterbrochen wurde.
»Wir erwarten den Angriff der Zitadelle fast jeden Moment«, sagte Gunther, der immer noch ruhig aus dem Fenster blickte. »In der Tat...«
Tanis griff Gunther am Arm. »Dort!« Er wies in eine Richtung.
Gunther nickte. Er wandte sich zu einem Burschen an der Tür und befahclass="underline" »Gib Alarm!«
Trompeten schmetterten, Trommeln schlugen. Die Ritter nahmen ihre Stellungen auf den Zinnen zügig und ordnungsgemäß ein. »Wir sind schon fast die ganze Nacht in Alarmbereitschaft«, fügte Gunther unnötigerweise hinzu.
Die Ritter waren diszipliniert, so daß keiner sprach oder aufschrie, als die fliegende Festung die Deckung der Gewitterwolken verließ und in Sichtweite schwebte. Die Hauptleute machten ihre Runden und erteilten mit gedämpfter Stimme Befehle. Trompeten schmetterten trotzig und herausfordernd. Gelegentlich hörte Tanis das Klirren einer Rüstung, wenn sich hier und dort ein Ritter nervös an seinem Platz bewegte. Und dann hörte er hoch oben das Schlagen von Drachenflügeln, als Scharen von bronzenen Drachen – angeführt von Khirsah – sich vom Turm in den Himmel erhoben.
»Ich bin dankbar, daß du mich überredet hast, den Turm des Oberklerikers zu verstärken, Tanis«, sagte Gunther, der immer noch sorgsam um Gelassenheit bemüht war. »Wie die Dinge lagen, habe ich mich aber nur an Ritter wenden können, die praktisch sofort antreten konnten. Trotzdem stehen hier jetzt mehr als zweitausend zur Verfügung. Wir sind mit Proviant gut ausgerüstet. Ja«, wiederholte er nochmals, »wir können den Turm halten – sogar gegen eine Zitadelle, da habe ich keine Zweifel. Kitiara kann nicht mehr als tausend Soldaten in diesem Ding haben...«
Tanis wünschte sich verdrießlich, daß Gunther mit diesen Überlegungen aufhören würde. Es hörte sich an, als ob der Ritter versuchte, sich selbst zu überzeugen. Während er auf die Zitadelle starrte, die immer näher rückte, schrie eine innere Stimme ihn an und kreischte, daß irgend etwas nicht stimmte...
Und trotzdem konnte er sich nicht bewegen. Er konnte nicht denken. Die fliegende Zitadelle war jetzt deutlich sichtbar, war jetzt vollständig aus den Wolken hervorgetreten. Sie nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er erinnerte sich daran, wie er sie das erste Mal in Kalaman gesehen hatte, rief sich den fesselnden Schock ins Gedächtnis zurück, den der Anblick bei ihm ausgelöst hatte, gleichzeitig beängstigend und ehrfurchterregend. Wie zuvor konnte er nur dastehen und sie anstarren.
In den Tiefen der dunklen Tempel der Stadt Sanction war es schwarzgekleideten Magiern und dunklen Klerikern unter der Leitung von Lord Ariakas – dem Befehlshaber der Drachenarmee, dessen bösartige Genialität fast zum Sieg der Dunklen Königin geführt hatte – gelungen, auf magischem Weg ein Schloß aus seinen Grundmauern zu reißen und in den Himmel zu heben. Die fliegende Zitadelle hatte mehrere Städte während des Krieges angegriffen, ihr letztes Ziel war kurz vor Kriegsende Kalaman gewesen. Beinahe wäre die befestigte Stadt trotz guter Verstärkung und aller Vorbereitung auf einen Angriff besiegt worden.