Und dann war sie verschwunden.
Nicht ein Pfeil war abgeschossen, noch kein Zauber geworfen worden. Khirsah und die bronzenen Drachen kreisten nervös über dem Turm, beäugten zornig ihre bösen Verwandten, hielten sich dennoch zurück. Sie waren durch ihren Schwur gebunden, erst anzugreifen, wenn sie selbst angegriffen wurden. Die Ritter standen auf den Zinnen, verrenkten ihre Hälse, um diese gigantische, furchteinflößende Erfindung zu beobachten, die über ihnen flog. Als sie über die oberste Spitze des Turms des Oberklerikers hinwegglitt, ließ sie noch einige Steine hinunterpurzeln, die unten im Hof zerschmetterten.
Leise fluchend lief Tanis zur Tür und stieß mit Gunther zusammen, der gerade eintreten wollte. Seine Miene spiegelte Verwirrung.
»Ich verstehe es nicht«, sagte Gunther zu seinen Beratern. »Warum hat sie uns nicht angegriffen? Was hat sie vor?«
»Sie wird die Stadt direkt angreifen, Mann!« Tanis packte Gunther an den Armen und schüttelte ihn. »Das hat Dalamar auch die ganze Zeit gesagt! Kitiara plant, Palanthas anzugreifen! Sie wird ihre Zeit nicht mit uns vertrödeln, und sie hat es auch nicht nötig! Sie fliegt über den Turm des Oberklerikers!«
Gunthers Augen, unter den Schlitzen seines Helmes kaum sichtbar, verengten sich. »Das ist Wahnsinn«, entgegnete er kalt und zupfte an seinem Schnurrbart. Schließlich riß er sich gereizt den Helm vom Kopf. »Im Namen der Götter, Halb-Elf, was ist das für eine militärische Strategie? Sie läßt die Nachhut ihrer Armee unbeschützt zurück! Selbst wenn sie Palanthas einnimmt, verfügt sie nicht über genug Stärke, die Stadt zu halten. Sie wird zwischen den Stadtmauern und uns gefangen sein. Nein! Sie muß uns erst hier erledigen, dann die Stadt angreifen! Denn sonst werden wir sie ohne weiteres vernichten. Es gibt kein Entrinnen für sie!«
Gunther wandte sich an seine Berater. »Vielleicht ist das ein Täuschungsmanöver, um uns zu verunsichern. Wir sollten uns lieber gefaßt machen, daß die Zitadelle von der anderen Seite aus zuschlägt...«
»Hör mir zu!« tobte Tanis. »Das ist kein Täuschungsmanöver. Sie rückt gegen Palanthas vor! Und bevor du mit deinen Rittern die Stadt erreicht hast, wird ihr Bruder durch das Portal zurückgekehrt sein! Und mit der Stadt in ihrer Gewalt wird sie auf ihn warten!«
»Unsinn!« knurrte Gunther. »Sie kann Palanthas nicht so schnell einnehmen. Die guten Drachen werden sich zum Kampf erheben. – Verdammt, Tanis, selbst wenn die Palanthianer keine großartigen Soldaten sind, können sie sie schon allein aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit abwehren!« Er schnaufte. »Die Ritter können sich sofort in Marsch setzen. In vier Tagen sind wir da.«
»Du hast eine Sache vergessen«, knurrte Tanis und schob sich entschlossen, aber höflich an dem Ritter vorbei. In der Tür drehte er sich noch einmal um und rief: »Wir haben alle eine Sache vergessen – den Faktor, der diese Schlacht ausgleicht – Lord Soth!«
18
Seine kraftvollen Hinterbeine trieben ihn an, und so erhob sich Khirsah mit anmutiger Leichtigkeit in die Lüfte und schwebte über die Mauern des Turms des Oberklerikers. Schon bald holten der Drache und sein Reiter mit energischen Flügelschlägen die langsam dahingleitende Zitadelle ein. Und trotzdem, bemerkte Tanis grimmig, bewegte sich die Festung noch schnell genug, um bereits am nächsten Tag in der Dämmerung Palanthas zu erreichen.
»Nicht zu dicht«, warnte er Khirsah.
Ein schwarzer Drache flog näher, kreiste in großen, gemächlichen Spiralen über ihnen und hatte ein wachsames Auge auf sie. Andere schwarze Drachen hielten sich weiter entfernt, und jetzt, wo er sich auf gleicher Höhe mit der Zitadelle befand, konnte Tanis auch die blauen Drachen sehen, die um die grauen Türme des schwebenden Schlosses flogen. In einem besonders großen blauen Drachen erkannte Tanis Kitiaras eigenes Reittier, Skie, wieder.
Aber wo ist Kitiara? fragte sich Tanis und versuchte erfolglos, in die Fenster zu spähen, die von einer wogenden Drakoniermenge bevölkert waren, die auf ihn zeigte und höhnisch grinste. Plötzliche Angst erfaßte ihn, daß sie ihn erkennen könnte, falls sie ihn beobachtete, und er zog die Kapuze seines Umhangs über seinen Kopf. Lächelnd kratzte er sich dann an seinem Bart. Auf diese Entfernung würde Kitiara nichts weiter ausmachen können als einen einzelner Reiter auf einem Drachen, der wahrscheinlich als Bote der Ritter abgesandt war.
Er konnte sich deutlich ausmalen, was in der Zitadelle vor sich ging.
»Wir könnten ihn vom Himmel abschießen, Fürstin Kitiara«, würde ein Befehlshaber vorschlagen.
Tanis konnte sogar Kitiaras Lachen hören. »Nein, laß ihn ruhig die Neuigkeiten nach Palanthas bringen und ihnen mitteilen, was ihnen bevorsteht. Gib ihnen Zeit zum Schwitzen.«
Zeit zum Schwitzen. Tanis wischte über sein Gesicht. Selbst in der eisigen Luft über dem Gebirge war sein Hemd unter der Ledertunika und der Rüstung feucht und klebrig. Er zitterte vor Kälte und zog seinen Umhang dichter um sich. Seine Muskeln schmerzten; denn er war gewohnt, in Kutschen zu reisen, nicht auf Drachen, und voller Sehnsucht dachte er kurz an sein warmes Gefährt. Dann schüttelte er den Kopf über sich selbst. Um klar denken zu können, zwang er sich, seine Gedanken von seinen Beschwerden abzuwenden, um sich auf dies kaum lösbare Problem, mit dem er konfrontiert war, zu konzentrieren.
Khirsah versuchte sein Bestes, den schwarzen Drachen zu ignorieren, der immer noch in ihrer Nähe flog. Der bronzene Drache beschleunigte sein Tempo, und schließlich drehte auch der schwarze ab, der lediglich zu ihrer Beobachtung geschickt worden war. Die Zitadelle blieb hinter ihnen zurück und glitt langsam und mühelos über Berggipfel, die jede Armee abrupt zum Stehenbleiben veranlaßt hätten.
Tanis versuchte Pläne zu schmieden, aber alles, woran er denken konnte, setzte wichtigere Dinge voraus, die er zuvor hätte erledigen müssen, bis er sich wie eine Maus in einem Laufrad vorkam, die trotz aller Hektik niemals von der Stelle kommt. Zumindest hatte Fürst Gunther tatsächlich die Generäle von Amothud (ein Ehrentitel in Palanthas, der für außerordentliche Dienste um das Gemeinwohl verliehen wurde, doch nicht ein einziger General hatte jemals an einer Schlacht teilgenommen) zusammengestaucht und ihnen zugesetzt, bis sie die ansässige Bürgerwehr zu mobilisieren versprachen. Unglücklicherweise wurde die Mobilisierung lediglich als Vorwand für einen Feiertag betrachtet.
Gunther und seine Ritter hatten dabeigestanden, gelacht und sich angestoßen, als sie die Bürger bei ihrer Wehrübung gesehen hatten. Danach hatte Herrscher Amothud eine zweistündige Ansprache gehalten, und die Bürgerwehr – stolz auf ihre Heldentaten – hatte sich sinnlos betrunken, und alle hatten sich gut amüsiert.
Als Tanis sich jetzt die rundlichen Tavernenbesitzer, die schwitzenden Händler, die adretten Schneider und tolpatschigen Schmiede wieder vorstellte, wie sie über ihre Waffen stolperten und sich gegenseitig anrempelten, Befehle befolgten, die niemals gegeben wurden, und jene, die gegeben wurden, ignorierten, hätte er aus Enttäuschung über die Sinnlosigkeit all ihrer Anstrengungen weinen können. Und diese Bürgerwehr, dachte er grimmig, wird morgen einem toten Ritter und seiner Armee von Skelettkriegern an den Toren von Palanthas gegenüberstehen.
»Wo ist Herrscher Amothud?« fragte Tanis und schob sich schon durch die riesigen Türen des Palastes, bevor sie noch ganz geöffnet waren. Fast stieß er einen erstaunten Lakaien um.
»Er schläft, Herr«, begann der Lakai, »es ist erst Vormittag...«
»Weck ihn. Wer hat das Kommando über die Ritter?«
Der Lakai stotterte, die Augen weit aufgerissen.
»Verdammt!« knurrte Tanis. »Wer ist der höchststehende Ritter, Blödmann?«
»Das müßte Sir Markham sein, Herr, Ritter der Rose«, antwortete Charles, der aus einer der Vorkammern erschienen war, mit seiner ruhigen, würdevollen Stimme. »Soll ich ihn rufen lassen?«