Ein Vorhang von Dunkelheit legte sich über Tanis’ Augen. Benommen und schwach sah er sich selbst am Rande eines gähnenden Abgrundes und spürte, wie er fiel...
Er hatte einen verschwommenen Eindruck, in weichen schwarzen Stoff eingehüllt zu werden, er spürte starke Hände, die ihn stützten, ihn führten...
Dann nichts mehr.
Der kühle, glatte Rand eines Glases berührte Tanis’ Lippen, Brandy brannte auf seiner Zunge und wärmte seine Kehle. Benommen sah er zu Charles auf, dessen Gesicht über ihm schwebte.
»Du hattest einen weiten Ritt hinter dir, ohne zu essen und zu trinken, sagte mir Dalamar.« Hinter Charles tauchte das blasse, besorgte Gesicht von Herrscher Amothud auf. Eingewickelt in einen weißen Morgenmantel, sah er einem verwirrten Geist sehr ähnlich.
»Ja«, murmelte Tanis, schob das Glas von sich und versuchte aufzustehen. Als er jedoch den Raum unter seinen Füßen schwanken spürte, beschloß er, lieber sitzen zu bleiben. »Du hast recht – ich hätte etwas essen sollen.« Er sah sich nach dem Dunkelelfen um. »Wo ist Dalamar?«
Charles’ Gesicht wurde ernst. »Wer weiß, mein Fürst? Vermutlich zurück zu seinem Wohnsitz geflohen. Er erklärte, daß seine Unterredung mit Euch abgeschlossen sei. Ich werde mit Eurer Erlaubnis, mein Fürst, den Koch Euer Frühstück bereiten lassen.« Charles verbeugte sich und zog sich zurück, aber zuvor trat er beiseite, um den jungen Sir Markham eintreten zu lassen.
»Hast du schon gefrühstückt, Sir Markham?« fragte Herrscher Amothud zögernd. Er war vollkommen verunsichert, was vor sich ging, und entschieden erregt über die Tatsache, daß ein zauberkundiger Dunkelelf sich frei fühlte, in seinem Haushalt einfach aufzutauchen und wieder zu verschwinden. »Nein? Dann werden wir zu dritt frühstücken. Wie möchtest du deine Eier?«
»Vielleicht sollten wir jetzt nicht über Eier diskutieren, mein Herrscher«, erwiderte Sir Markham und sah mit einem leichten Lächeln zu Tanis. Die Brauen des Halb-Elfs hatten sich beunruhigend zusammengezogen, und sein unordentliches und erschöpftes Aussehen zeigte, daß er einige unheilträchtige Neuigkeiten parat hatte.
Amothud seufzte, und Tanis wurde klar, daß der Herrscher lediglich versucht hatte, das Unvermeidliche hinauszuzögern.
»Ich bin heute morgen vom Turm des Oberklerikers zurückgekehrt...«, begann er.
»Ah«, unterbrach ihn Sir Markham, nahm lässig auf einem Stuhl Platz und schenkte sich ein Glas Brandy ein. »Ich habe vor kurzem eine Botschaft von Fürst Gunther erhalten, daß er davon ausgeht, heute morgen den Feind anzugreifen. Wie läuft die Schlacht?« Markham war ein wohlhabender junger Edelmann, gutaussehend, gutmütig, sorgenfrei und unbeschwert. Er hatte sich im Lanzenkrieg ausgezeichnet, wo er unter Lauranas Kommando kämpfte, und war zum Ritter der Rose geschlagen worden. Aber Tanis erinnerte sich an Lauranas Worte, daß die Haltung des jungen Mannes sehr lässig sei – fast gleichgültig – und daß er daher auch unzuverlässig sei. (»Ich hatte immer den Eindruck«, hatte Laurana nachdenklich gesagt, »daß er in der Schlacht einfach deswegen kämpft, weil es im Moment nichts Interessanteres zu tun gibt.«)
Tanis erinnerte sich an Lauranas Einschätzung des jungen Ritters, als er dessen fröhlichen, unbesorgten Ton hörte, und runzelte die Stirn. »Es gab keine«, sagte er. Ein fast komischer Ausdruck von Hoffnung und Erleichterung strahlte in Herrscher Amothuds Gesicht auf. Tanis mußte darüber fast lachen, aber weil er fürchtete, daß es ein hysterisches Lachen sein könnte, gelang es ihm, sich zu beherrschen. Er sah zu Sir Markham, der eine Braue hochzog.
»Keine Schlacht? Dann ist der Feind nicht erschienen...«
»Oh, erschienen ist er allerdings«, unterbrach Tanis ihn bitter, »er kam und ging. Einfach so.« Er machte in der Luft eine Geste. »Zisch.«
»Zisch?« Amothud erblaßte. »Ich verstehe nichts mehr.«
»Eine fliegende Zitadelle.«
»Im Namen der Hölle!« Sir Markham pfiff leise. »Eine fliegende Zitadelle.« Er wurde nachdenklich, und seine Hand glättete geistesabwesend seine elegante Reitkleidung. »Sie haben den Turm des Oberklerikers nicht angegriffen. Sie fliegen über das Gebirge. Das bedeutet...«
»Sie planen, alles, was sie haben, gegen Palanthas einzusetzen«, beendete Tanis den Satz.
»Aber ich verstehe das nicht!« Herrscher Amothud schaute verwirrt drein. »Die Ritter haben sie nicht aufgehalten?«
»Das wäre unmöglich gewesen, mein Herrscher«, erklärte Sir Markham mit einem lässigen Schulterzucken. »Die einzige Chance, eine fliegende Zitadelle erfolgreich anzugreifen, wäre ein Vorstoß mit Drachenscharen.«
»Und gemäß den Bedingungen des Kapitulationsvertrages dürfen die guten Drachen erst angreifen, wenn sie selbst angegriffen werden. Im Turm des Oberklerikers verfügen wir lediglich über eine kleine Schar von bronzenen Drachen. Eine weit größere Anzahl ist erforderlich – auch silberne und goldene Drachen —, um die Zitadelle aufzuhalten«, ergänzte Tanis erschöpft.
Sir Markham lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und grübelte. »Es gibt hier ein paar silberne Drachen in der Gegend, die sich natürlich sofort erheben, wenn die bösen Drachen gesichtet werden. Aber es sind nicht viele. Vielleicht könnte man nach weiteren schicken...«
»Die Zitadelle ist aber nicht einmal unsere schlimmste Bedrohung«, sagte Tanis. Er schloß die Augen und versuchte, das herumwirbelnde Zimmer festzuhalten. Was ist nur mit mir los? Vermutlich werde ich alt. Zu alt für solche Geschichten.
»Nicht?« Herrscher Amothud wirkte nach diesem zusätzlichen Schlag, als stehe er am Rande eines Zusammenbruchs, aber – Ehrenmann, der er nun einmal war – er tat sein Bestes, um seine angeschlagene Haltung wiederzufinden.
»Mit großer Wahrscheinlichkeit rückt Lord Soth mit der Drachenfürstin Kitiara an.«
»Ein toter Ritter!« murmelte Sir Markham mit einem leichten Lächeln.
Herrscher Amothud erblaßte so heftig, daß Charles, der gerade mit dem Frühstück zurückkehrte, dieses sofort abstellte und an die Seite seines Herrn eilte.
»Danke, Charles«, murmelte Amothud mit steifer, unnatürlicher Stimme. »Vielleicht ein kleiner Brandy.«
»Eine Menge Brandy wäre angebracht«, sagte Sir Markham vergnügt und leerte sein Glas. »Es ist jetzt nämlich genauso gut, sturzbetrunken zu sein. Genauer: Es ist ziemlich zwecklos, nüchtern zu bleiben. Nicht bei einem toten Ritter und seinen Legionen...« Die Stimme des jungen Ritters brach ab.
»Die Herren sollten jetzt essen«, sagte Charles bestimmt, nachdem er seinen Herrn versorgt hatte. Ein Schluck Brandy brachte etwas Farbe in Amothuds Gesicht zurück. Der Geruch des Essens ließ Tanis spüren, wie hungrig er war, und so erhob er keine Einwände, als Charles zügig hin und her eilte, einen Tisch herbeitrug und das Essen servierte.
»Wa...was bedeutet das alles?« stammelte Herrscher Amothud und legte automatisch seine Serviette auf seinen Schoß. »Ich... ich habe zuvor von diesem Ritter gehört. Mein Urururgroßvater war einer der Edelleute, die Soths Verhandlung in Palanthas beigewohnt haben. Dieser Soth war doch derjenige, der Laurana entführt hatte, nicht wahr, Tanis?«
Das Gesicht des Halb-Elfen verfinsterte sich. Er antwortete nicht.
Amothud hob flehend die Hände. »Aber was kann er gegen eine Stadt ausrichten?«
Es antwortete ihm immer noch keiner. Es bestand jedoch auch keine Notwendigkeit. Amothud sah von dem grimmigen, erschöpften Gesicht des Halb-Elfen zu dem jungen Ritter, der bitter lächelte, während er mit seinem Messer methodisch winzige Löcher in das Spitzentischtuch stach. Der Herrscher erhielt kurz seine Antwort.
Herrscher Amothud erhob sich. Sein Frühstück ließ er unberührt, und seine Serviette glitt unbemerkt von seinem Schoß auf den Boden. Dann ging er durch den prächtig eingerichteten Raum und stellte sich vor ein hohes Fenster aus handgeschnittenem Glas, das in einem komplizierten Muster gestaltet war. Eine große ovale Scheibe in der Mitte rahmte eine Ansicht auf die wunderschöne Stadt Palanthas ein. Der Himmel über der Stadt war dunkel und mit seltsamen, schäumenden Wolken überzogen. Aber der Sturm schien nur die Schönheit und offenkundige Gelassenheit der Stadt hervorzuheben.