Herrscher Amothud stand dort, seine Hand ruhte an einem Satinvorhang, und er sah hinaus auf die Stadt. Es war Markttag. Die Leute gingen auf ihrem Weg zum Marktplatz am Palast vorbei, plauderten über den unheilverkündenden Himmel, schleppten ihre Taschen und Körbe und wiesen ihre spielenden Kinder zurecht.
»Ich weiß, was du denkst, Tanis«, sagte Amothud schließlich, und seine Stimme schlug um. »Du denkst an Tarsis und Solace und Silvanesti und Kalaman. Du denkst an deinen Freund, der im Turm des Oberklerikers gestorben ist. Du denkst an all jene, die im vergangenen Krieg gestorben sind und gelitten haben, während wir in Palanthas unberührt blieben und in unserem angenehmen Leben nicht beeinträchtigt wurden.«
Tanis antwortete immer noch nicht. Er aß schweigend weiter.
»Und du, Sir Markham...« Amothud seufzte. »Neulich hörte ich dich und deine Ritter lachen. Ich hörte deine Bemerkungen über die Bewohner von Palanthas, daß sie ihre Geldbeutel mit in die Schlacht tragen und die Niederlage des Feindes planen, indem sie Münzen werfen und schreien: ›Verschwindet! Verschwindet!‹«
»Gegen Lord Soth wird das genauso viel nützen wie Schwerter!« Mit einem Schulterzucken und einem kurzen, spöttischen Lachen hielt Sir Markham Charles seinen Brandyschwenker zum Nachfüllen hin.
Amothud lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. »Wir haben niemals gedacht, daß der Krieg über uns kommen wird! Es war nie der Fall gewesen! Durch all die Jahrhunderte blieb Palanthas eine Stadt des Friedens, eine Stadt der Schönheit und des Lichtes. Die Götter haben uns verschont, selbst während der Umwälzung. Und jetzt, jetzt, wo überall auf der Welt Frieden herrscht, kommt dies zu uns!« Er drehte sich um. Sein blasses Gesicht war angespannt und gequält. »Warum? Ich verstehe das einfach nicht!«
Tanis schob seinen Teller beiseite. Er lehnte sich zurück, streckte sich und versuchte die Krämpfe in seinen Muskeln zu lindern. Ich werde alt, dachte er, alt und weich. Ich vermisse meinen nächtlichen Schlaf. Ich verpasse eine Mahlzeit und werde ohnmächtig. Ich vermisse Zeiten, die längst vorbei sind. Ich vermisse Freunde, die längst tot sind. Und mir wird übel, und ich bin müde, Leute in einem dummen, sinnlosen Krieg sterben zu sehen! Er seufzte schwer, rieb über seine trüben Augen, stützte dann die Ellbogen auf den Tisch und ließ den Kopf in die Hände sinken.
»Du redest von Frieden. Was für ein Friede?« fragte er. »Wir benehmen uns wie Kinder in einem Haus, wo Mutter und Vater sich tagelang ständig gestritten haben, bis sie schließlich ruhig und höflich sind. Wir lächeln viel und versuchen glücklich zu sein, essen unser Gemüse und bewegen uns auf Zehenspitzen. Wir haben Angst davor, ein Geräusch von uns zu geben. Weil wir wissen, wenn wir das tun, wird der Kampf sofort wieder ausbrechen. Und das nennen wir dann Frieden!« Tanis lachte verbittert. »Sag ein falsches Wort, mein Herrscher, und Porthios’ Elfen werden dir an den Hals gehen. Streiche auf eine falsche Weise über deinen Bart, und die Zwerge werden wieder die Tore zum Gebirge verschließen.«
Als er einen flüchtigen Blick auf Herrscher Amothud warf, sah Tanis, daß der Mann seinen Kopf gesenkt hielt. Er sah die zierliche Hand über die Augen streichen und seine Schultern zusammensacken. Tanis’ Zorn verflog. Auf was war er überhaupt zornig? Auf das Schicksal? Die Götter?
Tanis erhob sich müde und ging zum Fenster. Auch er sah auf die friedliche, wunderschöne, zum Untergang verurteilte Stadt hinunter. »Ich habe darauf keine Antwort, mein Herrscher«, sagte er ruhig. »Wenn ich sie hätte, würde ich mir einen Tempel errichten lassen und mich mit einem ganzen Haufen von Klerikern umgeben, glaube ich. Ich weiß lediglich, daß wir nicht zurückstecken dürfen. Wir müssen es versuchen.«
»Noch einen Brandy, Charles«, sagte Sir Markham und hielt wieder sein Glas hin. »Laßt uns darauf trinken, meine Herren.« Er hob sein Glas: »Niemals zurückstecken – drauf reimt sich ›verrecken‹!«
19
An der Tür klopfte es leise. Tanis, der in seine Arbeit vertieft war, schreckte zusammen. »Ja, wer ist da?« rief er.
Die Tür wurde geöffnet. »Ich bin es, Charles, mein Fürst. Ihr hattet darum gebeten, daß ich während der Wachablösung zu Euch kommen soll.«
Tanis wandte den Kopf zum Fenster und sah hinaus. Er hatte es geöffnet, um Luft hereinzulassen. Aber die Frühlingsnacht war noch immer warm, und kein Windchen regte sich. Der Himmel war dunkel, außer wenn wieder die unheimlichen rosafarbenen Blitze von einer Wolke zur anderen zuckten. Jetzt, wo seine Aufmerksamkeit geweckt war, hörte er die Glocken läuten, die zur Nachtwache ertönten. Er konnte die Stimmen der Wachen hören, die gerade zum Dienst antraten, er konnte die Schritte jener hören, die sich zur Ruhe begaben.
Ihre Ruhe würde nur kurz sein.
»Danke, Charles«, sagte Tanis. »Komm herein, ja?«
»Gewiß, mein Fürst.«
Der Diener trat in das Zimmer und schloß die Tür leise hinter sich. Tanis starrte noch einen Augenblick auf den Bogen Papier auf seinem Schreibtisch. Dann zogen sich seine Lippen entschlossen zusammen, und er schrieb noch zwei weitere Zeilen in sicherer Elfenhandschrift. Er streute Sand zum Trocknen der Tinte darüber und las den Brief nochmals sorgfältig durch. Aber seine Augen trübten sich, und die Buchstaben verschwammen. Schließlich gab er auf, unterzeichnete mit seinem Namen, rollte den Pergamentbogen zusammen und saß mit der Rolle in seiner Hand stumm da.
»Herr«, sagte Charles, »geht es Euch nicht gut?«
»Charles...«, begann Tanis und drehte an einem Ring aus Stahl und Gold, den er an einem Finger trug. Seine Stimme brach ab.
»Mein Fürst?« hakte Charles nach.
»Das ist ein Brief an meine Frau, Charles«, fuhr Tanis mit leiser Stimme fort, ohne den Diener anzusehen. »Sie ist in Silvanesti. Er muß noch heute verschickt werden, bevor...«
»Ich verstehe, Herr«, unterbrach Charles, trat nach vorne und nahm den Brief an sich.
Tanis errötete vor Schuldgefühl. »Ich weiß, es gibt sehr viel wichtigere Dokumente, die verschickt werden müßten – Mitteilungen an die Ritter und dergleichen... aber...«
»Ich habe in diesem Fall aber auch einen Boten zur Stelle, mein Fürst. Es ist ein Elf, auch aus Silvanesti. Er ist loyal, aber um aufrichtig zu sein, Herr, er wird trotzdem mehr als erfreut sein, die Stadt wegen einer solch achtbaren Aufgabe zu verlassen.«
»Danke, Charles.« Tanis seufzte und fuhr mit der Hand durch sein Haar. »Wenn etwas passieren sollte, möchte ich, daß sie erfährt...«
»Natürlich, mein Fürst. Völlig verständlich. Macht Euch keine weiteren Gedanken. Vielleicht noch Euer Siegel?«
»O ja, sicherlich.« Tanis zog den Ring ab und drückte ihn in das heiße Wachs, das Charles bereits auf das Papier getröpfelt hatte. Das Bild eines Espenblattes prägte sich in das Siegelwachs.
»Fürst Gunther ist angekommen, mein Fürst. Er hat gerade eine Besprechung mit Sir Markham.«
»Fürst Gunther!« Tanis’ Braue glättete sich. »Hervorragend. Kann ich...«
»Sie haben darum gebeten, daß Ihr Euch zu ihnen gesellt, wenn es Euch paßt, mein Fürst«, unterbrach Charles gelassen.
»Oh, es paßt mir jetzt gut«, antwortete Tanis und erhob sich. »Vermutlich gibt es noch keine Zeichen von der Zita...«
»Noch nicht, mein Fürst. Ihr werdet die Herren im Sommerfrühstückssalon finden – offiziell jetzt das Kriegszimmer.«
»Danke, Charles«, sagte Tanis und staunte, daß es ihm schließlich doch noch gelungen war, einen Satz zu Ende zu bringen.
»Ist sonst noch irgend etwas, mein Fürst?«