Hoch, grob gemeißelt, hatte er die Verheerungen durch Feuer und Wind und Sturm überstanden. Seine Oberfläche war geschwärzt und verkohlt, aber Tolpan erkannte eingemeißelte Buchstaben, Buchstaben, die er glaubte lesen zu können, wenn er erst den Schmutz entfernt hätte.
Tolpan wischte den Ruß und den schmuddeligen Film weg, der über dem Stein lag, starrte einen langen Moment darauf und rief dann leise: »Caramon.«
Der merkwürdige Ton in der Stimme des Kenders drang durch Caramons Schleier der Trauer. Er hob den Kopf. Als er den seltsamen Obelisken und Tolpans ungewöhnlich ernstes Gesicht sah, schob sich der große Mann schmerzgequält hoch und hinkte auf ihn zu. »Was ist denn?« fragte er.
Tolpan konnte nicht antworten, sondern nur mit dem Kopf schütteln und mit dem Finger auf etwas zeigen.
Caramon kam zu ihm und stand da. Schweigend las er die grob eingemeißelten Buchstaben der unfertigen Inschrift: »Heldin der Lanze Tika Waylan Majere. Todesjahr 358. Dein Lebensbaum wurde zu früh gefällt. Ich fürchte, in meinen Händen wird die Axt gefunden.«
»Es... es tut mir leid, Caramon«, murmelte Tolpan und ließ seine Hand in die schlaffen, kraftlosen Finger des großen Mannes gleiten.
Caramons Kopf neigte sich. Er legte seine Hand auf den Obelisken und strich über dessen kalte, nasse Oberfläche, während der Wind um sie peitschte. Einige Regentropfen klatschten gegen den Stein. »Sie ist allein gestorben«, sagte er. Er ballte seine Faust und schlug damit gegen den Stein. An den scharfen Ecken schnitt er sich die Hand auf. »Ich habe sie allein gelassen! Ich hätte hier sein sollen! Verdammt, ich hätte hier sein sollen!«
Er schluchzte. Tolpan, der zu den Sturmwolken aufsah und erkannte, daß sie sich wieder bewegten und näher rückten, hielt Caramons Hand fest.
»Ich glaube nicht, daß du etwas hättest tun können, Caramon, wenn du hier gewesen wärst...«, begann der Kender aufrichtig.
Plötzlich brach er ab, dabei biß er sich fast auf die Zunge. Er zog seine Hand aus Caramons Faust – der große Mann bemerkte es nicht einmal – und kniete sich in den Schlamm. Seine flinken Augen hatten etwas erhascht, das in den krankhaften Strahlen der blassen Sonne glänzte. Er griff mit einer zitternden Hand nach unten und schaufelte den Schlamm beiseite.
»Im Namen der Götter«, murmelte er voller Ehrfurcht und lehnte sich auf seine Fersen zurück. »Caramon, du warst hier!«
»Was?« knurrte der andere.
Tolpan zeigte es ihm.
Caramon hob den Kopf und sah nach unten.
Dort, vor seinen Füßen, lag seine eigene Leiche.
3
Zumindest schien es seine Leiche zu sein. Sie trug die Rüstung, die Caramon in Solamnia erworben hatte – die Rüstung, die er während des Zwergentorkrieges getragen hatte, die Rüstung, die er getragen hatte, als er und Tolpan Zaman verlassen hatten, die Rüstung, die er jetzt trug...
Aber darüber hinaus gab es keine weiteren Anhaltspunkte an der Leiche. Anders als die anderen, die unter den Schlammschichten konserviert gewesen waren, lag diese dicht an der Oberfläche und hatte sich zersetzt. Übriggeblieben war nur das Skelett eines offensichtlich großen Mannes, das am Fuß des Obelisken lag. Eine Hand mit einem Meißel ruhte direkt unter dem Steindenkmal, als ob seine letzte Tat das Einschneiden dieses letzten schrecklichen Satzes gewesen wäre.
Es war nicht ersichtlich, wie der Mann gestorben war.
»Was ist hier los, Caramon?« fragte Tolpan mit bebender Stimme. »Wenn du das bist und wenn du tot bist, wie kannst du dann zur gleichen Zeit hier stehen?« Ein neuer Gedanke kam ihm plötzlich in den Sinn. »O nein! Was ist, wenn du nicht hier bist?« Er umklammerte seinen Haarzopf und drehte ihn immer wieder herum. »Wenn du nicht hier bist, dann habe ich dich erfunden. Du meine Güte!« Tolpan schluckte. »Ich habe es nicht für möglich gehalten, daß ich eine derart lebhafte Phantasie habe. Du siehst wirklich real aus.« Er streckte zitternd eine Hand aus und berührte Caramon. »Du fühlst dich real an, und wenn es dich nicht stört, was ich sage: Du riechst sogar real!« Tolpan rang seine Hände. »Caramon! Ich werde verrückt«, schrie er wild. »Wie einer von diesen Dunkelzwergen in Thorbadin!«
»Nein, Tolpan«, murmelte Caramon. »Das ist alles real. Alles ist wirklich real.« Er starrte auf die Leiche, dann auf den Obelisken, der inzwischen im schnell schwindenden Licht kaum noch erkennbar war. »Und allmählich ergibt das alles einen Sinn. Wenn ich nur...« Er hielt inne und musterte eingehend den Obelisken. »Das ist es! Tolpan, sieh dir doch das Datum auf dem Denkmal an!«
Mit einem Seufzer hob Tolpan seinen Kopf. »Dreihundertachtundfünfzig«, las er mit teilnahmsloser Stimme. Dann riß er seine Augen weit auf. »Dreihundertachtundfünfzig?« wiederholte er. »Caramon – es war dreihundertsechsundfünfzig, als wir Solace verlassen haben!«
»Wir sind zu weit gereist, Tolpan«, murmelte Caramon voller Entsetzen. »Wir sind in unsere eigene Zukunft geraten.«
Die brodelnden schwarzen Wolken, die sie beobachtet hatten, ballten sich am Horizont wie eine Armee zusammen, die sich für einen Angriff in voller Stärke sammelt, drängten kurz vor Einbruch der Dunkelheit herein und löschten gnädig die letzten kurzen Strahlen der geschrumpften Sonne aus.
Der Sturm schlug schnell und mit unglaublicher Heftigkeit zu. Eine Explosion aus heißem Wind blies Tolpan vom Boden hoch und warf Caramon gegen den Obelisken. Dann setzte der Regen ein und prasselte mit Tropfen wie geschmolzenes Blei auf sie nieder. Der Hagel schlug schmerzhaft auf ihre Köpfe und Körper.
Doch noch entsetzlicher als Wind oder Regen waren die tödlichen vielfarbigen Blitze, die von den Wolken zum Boden hüpften, auf die Baumstümpfe einschlugen und sie in leuchtenden Flammenkugeln zerfetzten, die meilenweit zu sehen waren. Der Donner grollte dröhnend und unablässig, erschütterte den Boden und betäubte ihre Sinne.
Verzweifelt versuchten sie, Schutz vor dem heftigen Sturm zu finden. Tolpan und Caramon kauerten sich unter einen umgestürzten Vallenholzbaum und krochen dann in ein Loch, das Caramon im grauen, sickernden Schlamm gegraben hatte. Von dieser dürftigen Zuflucht aus beobachteten sie ungläubig, wie der Sturm an dem ohnehin toten Land seine Zerstörungswut ausließ. Feuer fegten über die Gebirgshänge, und sie konnten den Gestank von brennendem Holz riechen. Blitze schlugen in der Nähe ein, Bäume explodierten, große Erdstücke flogen durch die Luft. Der Donner quälte ihre Ohren.
Der einzige Segen, den der Sturm brachte, war das Regenwasser. Caramon hielt seinen Helm auf und sammelte schnell genügend Trinkwasser ein. Aber es roch entsetzlich – wie verfaulte Eier, schrie Tolpan und hielt beim Trinken die Nase zu —, und es half wenig, ihren Durst zu lindern.
Keiner von ihnen sprach aus, woran sie beide dachten, daß sie nämlich keine Möglichkeit hatten, Wasser zu lagern, und daß sie nichts zu essen hatten.
Allmählich fühlte sich Tolpan wieder normal, da er nun wußte, wo er sich befand und in welcher Zeit (auch wenn ihm nicht ganz klar war, warum er hier gelandet oder wie er hierher gekommen war); daher genoß er in der ersten Stunde den Sturm sogar. »Ich habe noch nie Blitze in dieser Farbe gesehen«, schrie er über den dröhnenden Donner und beobachtete sie mit entzücktem Interesse. »Es ist so gut wie die Vorstellung eines Straßenkünstlers!« Aber schon bald begann ihn das Spektakel zu langweilen.
»Wie auch immer«, kreischte er, »sogar die Beobachtung, wie Bäume direkt aus dem Boden zerfetzt werden, ist nach dem fünften Mal nicht mehr so interessant. Wenn du dich nicht zu einsam fühlst, Caramon«, fügte er mit einem kieferkrachenden Gähnen hinzu, »würde ich gern ein kleines Nickerchen halten. Es stört dich doch nicht, Wache zu halten, oder?«
Caramon schüttelte den Kopf und wollte gerade eine Antwort geben, als ihn das Krachen einer erneuten Explosion aufschreckte. Ein Baumstumpf verschwand keine dreißig Meter von ihnen entfernt in einer blaugrünen Flammenkugel.