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Das hätten auch wir sein können, dachte Caramon, starrte auf die glühende Asche und zog seine Nase gegen den Schwefelgestank kraus. Wir können die nächsten sein! Ein wilder Wunsch, plötzlich loszurennen, schoß ihm durch den Kopf, ein Wunsch, der so stark war, daß seine Muskeln zuckten und er sich zwingen mußte, zu bleiben, wo er war.

Dort draußen wartete der sichere Tod. Zumindest hier in diesem Loch waren sie unterhalb des Bodens. Aber während er noch darüber nachdachte, sah er einen Blitz ein riesiges Loch in den Boden schlagen und lächelte bitter. Nein, nirgendwo gab es Sicherheit. Sie mußten einfach abwarten und den Göttern vertrauen.

Er warf Tolpan einen flüchtigen Blick zu und wollte dem Kender etwas Tröstendes sagen. Die Worte erstarben ihm auf den Lippen. Seufzend schüttelte er den Kopf. Einige Dinge würden sich niemals verändern – unter anderem Kender. Zu einer Kugel eingerollt, unberührt von dem um ihn tobenden Entsetzen, schlief Tolpan tief und fest.

Caramon kauerte sich tiefer in das Loch und hielt seine Augen auf die aufschäumenden, von Blitzen umränderten Wolken gerichtet. Um sich von seiner Angst abzulenken, begann er, seine Gedanken über das, was geschehen war, zu ordnen und darüber nachzudenken, wie sie in diese mißliche Lage geraten waren. Er schloß die Augen vor den blendenden Blitzen und sah wieder einmal seinen Zwillingsbruder vor dem entsetzlichen Portal stehen. Er konnte Raistlins Stimme hören, wie er die fünf Drachenköpfe anrief, die das Portal bewachten, sie sollten es öffnen und ihm Zugang in die Hölle gewähren. Er sah Crysania, Klerikerin Paladins, wie sie zu ihrem Gott betete, verloren in der Ekstase ihres Glaubens und blind gegenüber dem Bösen in seinem Bruder.

Caramon erschauerte und hörte Raistlins Worte so deutlich, als ob der Erzmagier neben ihm stünde.

»Sie wird die Hölle mit mir betreten. Sie wird vor mir gehen und meine Schlachten austragen. Sie wird dunklen Klerikern gegenübertreten, dunklen Zauberkundigen, Geistern der Toten, die verdammt sind, in diesem verfluchten Land zu streifen, und jeder erdenklichen Folter, die sich meine Königin nur ausdenken kann. All dies wird ihren Körper verletzen, ihren Geist verschlingen und ihre Seele zerstören. Schließlich, wenn sie es nicht mehr ertragen kann, wird sie auf den Boden sinken und vor meinen Füßen liegen... blutend, erbärmlich, sterbend.

Sie wird mit der letzten ihr noch verbleibenden Kraft ihre Hand nach mir ausstrecken, um Trost zu erhalten. Sie wird mich nicht bitten, sie zu retten. Dafür ist sie zu stark. Sie wird mir ihr Leben freiwillig und freudig geben. Sie wird lediglich darum bitten, daß ich bei ihr bleibe, wenn sie stirbt...

Aber ich werde an ihr vorbeigehen, ohne sie eines Blickes zu würdigen und ohne ein Wort zu verlieren. Warum? Weil ich dann keine Verwendung mehr für sie habe...«

Spätestens bei diesen Worten hatte Caramon endlich eingesehen, daß sein Bruder unwiderruflich verloren war. Und endlich hatte er ihn verlassen.

Soll er doch in die Hölle gehen, hatte Caramon bitter gedacht. Soll er doch die Dunkle Königin herausfordern. Soll er doch ein Gott des Bösen werden. Es interessiert mich nicht mehr. Ich kümmere mich nicht mehr darum, was ihm passiert. Endlich bin ich von ihm befreit – so wie er von mir frei ist.

Caramon hatte mit Tolpan das magische Gerät ergriffen und den Vers aufgesagt, den Par-Salian ihn gelehrt hatte. Er hatte die Steine singen hören können, so wie er sie auch während der vorhergehenden zwei Male singen gehört hatte, bei denen er an einem Zeitreisezauber teilgenommen hatte.

Aber dann war irgend etwas Unvorhergesehenes geschehen. Irgend etwas war anders gewesen. Und jetzt, wo er Zeit zum Denken und Überlegen hatte, fiel ihm ein, daß er sich in plötzlicher Panik gefragt hatte, ob irgend etwas nicht in Ordnung war. Aber er wußte nicht mehr, was es gewesen war.

Nicht, daß ich etwas dagegen hätte unternehmen können, dachte er verbittert. Ich habe die Magie niemals verstanden – und ihr auch niemals vertraut.

Ein erneuter Blitz, der ganz in ihrer Nähe einschlug, unterbrach seine Konzentration und ließ sogar Tolpan aus dem Schlaf aufspringen. Gereizt murmelte der Kender etwas Unverständliches, dann legte er die Hände über die Augen und schlief weiter. Er sah aus wie eine in ihrer Höhle eingerollte Schlafmaus.

Mit einem Seufzer zwang sich Caramon, nicht mehr an Stürme und Schlafmäuse zu denken, sondern an die letzten kurzen Augenblicke, bevor sie den Zauber mit dem magischen Gerät begonnen hatten.

Ich erinnere mich, daß ich das Gefühl hatte, ich würde gezogen, aus der Form gezogen, als ob eine Kraft versuchte, mich in eine Richtung zu zerren, während eine andere mich in die entgegengesetzte Richtung zog. Was hatte denn Raistlin in demselben Moment gemacht? Caramon kämpfte um seine Erinnerung. Ein verschwommenes Bild seines Bruders kam ihm in den Sinn. Er sah Raistlin, das Gesicht war vor Entsetzen verzerrt, wie er schockiert auf das Portal starrte. Er sah Crysania im Portal stehen, aber sie betete nicht mehr zu ihrem Gott. Ihr Körper krümmte sich vor Schmerzen, und ihre Augen waren vor schrecklicher Angst weit aufgerissen.

Caramon erschauerte und leckte an seinen Lippen. Das Wasser hatte einen bitteren Geschmack in seinem Mund zurückgelassen, und es kam ihm vor, als hätte er an rostigen Nägeln gekaut. Er spuckte und wischte sich mit einer Hand über den Mund. Erschöpft lehnte er sich zurück. Eine weitere Explosion ließ ihn zusammenzucken. Und auch eine plötzliche Erkenntnis.

Sein Bruder hatte versagt.

Raistlin war das Gleiche widerfahren, was zuvor Fistandantilus widerfahren war. Er hatte die Kontrolle über seine Magie verloren. Das magische Feld ihres Zeitreisegerätes hatte seinen Zauberspruch irregeleitet. Das war die einzige wahrscheinliche Erklärung...

Caramon runzelte die Stirn. Nein, Raistlin mußte diese Möglichkeit doch vorausgesehen haben. Und dann hätte er niemals zugelassen, daß sie das Gerät benutzten, er hätte sie getötet, so wie er zuvor Tolpans Freund, den Gnom, getötet hatte.

Caramon schüttelte den Kopf, um klarer zu sehen, und begann noch einmal von vorne. Er arbeitete sich durch das Problem, so wie er sich durch das verhaßte Alphabet gearbeitet hatte, das seine Mutter ihm als Kind beigebracht hatte. Das magische Feld war beeinträchtigt worden, das war klar. Es hatte ihn und den Kender zu weit voraus in die Zeit geworfen und sie in ihre eigene Zukunft geschickt.

Und das bedeutete sicher auch, daß sie nur das Gerät erneut nutzen mußten, um zurück in die Gegenwart zu gelangen, zurück zu Tika, zurück nach Solace...

Er öffnete die Augen und sah sich um. Aber würden sie dann die Zukunft genauso erleben, wenn sie zurückkehrten?

Caramon erschauerte. Er war von dem sintflutartigen Regenfall völlig durchnäßt. Die Nacht war eisig, aber es war nicht die Kälte, die ihn peinigte. Er wußte, was es bedeutete, mit dem Wissen zu leben, was in der Zukunft geschehen würde. Er wußte, wie quälend es sein würde, ohne Hoffnung zu leben. Würde er zurückgehen und Tika und seinen Freunden in die Augen sehen können, mit dem Wissen, was auf sie alle zukommen würde? Er dachte an die Leiche unter dem Denkmal. Wie nur sollte er mit dem Wissen zurückgehen, was auf ihn zukommen würde?

Wenn er das wirklich gewesen war. Er erinnerte sich an die letzte Unterhaltung mit seinem Bruder. Tolpan hatte die Zeit verändert – hatte Raistlin gesagt. Weil Kender, Zwerge und Gnome zufällig entstanden und nicht vorgesehen waren, fügten sie sich auch nicht in den Fluß der Zeit wie die Menschen, die Elfen und die Oger. Folglich war den Kendern das Reisen in die Vergangenheit nicht erlaubt, denn es lag ja in ihrer Macht, die Zeit zu verändern.

Aber Tolpan war zufällig in die Vergangenheit geraten, weil er in das magische Feld gesprungen war, gerade als Par-Salian, das Oberhaupt des Turmes der Erzmagier, den Zauber geworfen hatte, mit dem Caramon und Crysania zurückgeschickt werden sollten. Tolpan hatte die Zeit verändert. Darum wußte Raistlin auch, daß er nicht das gleiche Schicksal wie Fistandantilus erleiden mußte. Er verfügte über die Macht, das Ergebnis zu ändern. Während Fistandantilus gestorben war, konnte Raistlin leben.