Caramons Schultern sackten zusammen. Ihm war plötzlich übel und schwindelig. Was bedeutete das? Was tat er hier? Wie konnte er gleichzeitig tot und lebendig sein? War das überhaupt seine Leiche? Weil Tolpan die Zeit verändert hatte, konnte es sich auch um eine andere Person handeln. Aber was war mit Solace geschehen? Das mußte er zuerst erfahren.
»Hat Raistlin das verursacht?« murmelte Caramon zu sich, nur um den Klang seiner Stimme inmitten der strahlenden Blitze und dröhnenden Explosionen zu hören. »Hat das etwas mit ihm zu tun? Hat er dies geschehen lassen, weil er versagt hat, oder...«
Caramon hielt seinen Atem an. Neben ihm bewegte sich Tolpan im Schlaf, wimmerte und schrie. Caramon tätschelte ihn geistesabwesend. »Ein böser Traum«, sagte er und spürte den kleinen Körper des Kenders unter seiner Hand zucken. »Ein böser Traum, Tolpan. Schlaf weiter.«
Tolpan rollte sich auf die andere Seite und schmiegte seinen kleinen Körper eng an Caramon. Seine Hände hielten immer noch seine Augen bedeckt. Caramon tätschelte ihn weiter beruhigend.
Ein böser Traum. Er wünschte, daß es wirklich weiter nichts wäre. Er wünschte ganz verzweifelt, daß er in seinem eigenen Bett aufwachen und sein Schädel vom übermäßigen Alkohol brummen würde. Er wünschte, er könnte Tika hören, wie sie die Teller durch die Küche schleuderte und ihn einen faulen, versoffenen Herumtreiber nannte, während sie gleichzeitig sein Lieblingsfrühstück bereitete. Er wünschte, er hätte dieses erbärmliche, alkoholdurchtränkte Leben einfach so weiterführen können, denn dann wäre er gestorben, ohne zu wissen...
O bitte, laß es einen Traum sein! flehte Caramon, senkte seinen Kopf zwischen seine Knie und spürte bittere Tränen unter seinen geschlossenen Augenlidern hervorkriechen.
So saß er da, nicht einmal vom Sturm in Mitleidenschaft gezogen, sondern erschlagen von dem Gewicht seines plötzlichen Verstehens. Tolpan seufzte und bebte, schlief aber ruhig weiter. Caramon rührte sich nicht. Er schlief nicht. Er konnte nicht schlafen. Der Traum, durch den er ging, war ein Wachtraum, ein Alptraum im Wachsein. Ihm fehlte nur noch eins, um seiner Erkenntnis sicher zu sein, eine Bestätigung, die sein Herz nicht mehr nötig hatte.
Der Sturm legte sich allmählich und verzog sich weiter in den Süden. Caramon konnte deutlich spüren, wie er sich entfernte. Der Donner ging wie mit den Füßen eines Riesen durch das Land. Als alles vorbei war, tönte dann das Schweigen lauter in seinen Ohren als die Explosionen der Blitze. Der Himmel würde bald klar sein. Klar bis zum nächsten Sturm. Er würde die Monde sehen und die Sterne...
Die Sterne...
Er mußte nur den Kopf heben und in den Himmel schauen, in den klaren Himmel, dann würde er seine Bestätigung gleich bekommen.
Und wieder ließ er Zeit verstreichen, saß da und wünschte sich, den Geruch von Würzkartoffeln riechen zu können, wünschte sich, Tikas Lachen zu hören, das die Stille vertrieb, wünschte sich, nur Kopfschmerzen von zuviel Alkohol spüren und nicht den entsetzlichen Schmerz in seinem Herzen aushalten zu müssen.
Aber seine Wünsche erfüllten sich nicht. Um ihn war nur die Totenstille des verwüsteten Landes, unterbrochen von dem weit, weit entfernten Rollen des Donners.
Mit einem kleinen Seufzer, den er selbst kaum hören konnte, hob Caramon seinen Kopf und sah in den Himmel hoch.
Er schluckte den bitteren Speichel in seinem Mund hinunter, der ihn fast erstickte. Tränen stachen in seine Augen, aber er drängte sie zurück, damit er deutlich sehen konnte.
Da war sie – die Bestätigung seiner Befürchtungen, das Zeichen seines Untergangs.
Eine neue Konstellation am Himmel.
Ein Stundenglas...
»Was bedeutet das?« fragte Tolpan, rieb sich die Augen und starrte verschlafen zu den Sternen hoch.
»Es bedeutet, daß Raistlin Erfolg hatte«, antwortete Caramon mit einer merkwürdigen Mischung aus Angst, Kummer und Stolz in seiner Stimme. »Es bedeutet, daß er die Hölle betreten und die Königin der Finsternis herausgefordert und – sie besiegt hat!«
»Er hat sie nicht besiegt, Caramon«, widersprach Tolpan, studierte aufmerksam den Himmel und zeigte auf die Sterne. »Da ist ihre Konstellation, aber sie ist am falschen Platz. Sie ist dort drüben, obwohl sie doch hier sein sollte. Und da ist Paladin.« Er seufzte. »Armer Fizban. Ich frage mich bloß, ob er gegen Raistlin kämpfen muß. Ich glaube nicht, daß ihm das gefällt. Ich hatte immer den Eindruck, daß er Raistlin versteht, vielleicht besser als wir alle zusammen.«
»Die Schlacht ist vielleicht noch im vollen Gange«, grübelte Caramon. »Vielleicht ist das der Grund für die Stürme.« Er schwieg einen Moment, starrte hoch zu den glitzernden Umrissen des Stundenglases. Vor seinem inneren Auge sah er die Augen seines Bruders, wie sie sich – es war jetzt schon so lange her – nach den schrecklichen Prüfungen im Turm der Erzmagier verändert hatten – ihre Pupillen hatten die Form von Stundengläsern angenommen.
»Mit ihnen wirst du die Zeit sehen, Raistlin, wie sie auf alle Dinge einwirkt«, hatte Par-Salian ihm erklärt. »Und auf diese Weise wirst du hoffentlich Mitgefühl für alles um dich entwickeln.«
Aber die erhoffte Wirkung war nicht eingetreten.
»Raistlin hat gewonnen«, sagte Caramon mit einem leisen Seufzer. »Er ist geworden, was er immer sein wollte – ein Gott. Und jetzt herrscht er über eine tote Welt.«
»Über eine tote Welt?« fragte Tolpan berunruhigt. »M...meinst du, die ganze Welt sieht so aus? Alles auf Krynn – Palanthas und Haven und Qualinesti? K...kenderheim? Alles?«
»Sieh dich doch mal um«, erwiderte Caramon düster. »Was glaubst du wohl? Hast du denn andere Lebewesen gesehen, seitdem wir hier sind?« Er beschrieb einen weiten Bogen mit seiner Hand, die im blassen Licht von Solinari kaum zu sehen war. Die dahinschwindenden Wolken hatten den Mond freigelegt, der nun wie ein starres Auge am Himmel glänzte. »Du hast das Feuer gesehen, wie es über die Gebirgskette gefegt ist. Du kannst die Blitze immer noch am Horizont sehen.« Er zeigte in den Osten. »Und dort braut sich ein neuer Sturm zusammen. Nein, Tolpan. Hier kann nichts überleben. Und auch wir werden in nicht allzu langer Zeit tot sein – entweder in Stücke zersprengt oder...«
»Oder... oder irgend etwas anderes...«, unterbrach Tolpan klagend. »Ich... ich fühle mich wirklich nicht wohl, Caramon. Und es... es liegt entweder am Wasser, oder ich bekomme wieder die Pest.« Sein Gesicht verzog sich schmerzvoll, und er legte eine Hand auf seinen Bauch. »Mir ist ganz komisch im Bauch, als ob ich eine Schlange verschluckt hätte.«
»Das Wasser«, murmelte Caramon mit einer Grimasse. »Mir geht es genauso. Wahrscheinlich ist in diesen Wolken Gift enthalten.«
»Werden... werden wir dann hier sterben, Caramon?« fragte Tolpan nach einer Minute schweigsamen Nachdenkens. »Denn wenn das der Fall ist, dann glaube ich wirklich, ich würde gerne hinübergehen und mich neben Tika legen, wenn es dich nicht stört. Ich... ich würde mich eher zu Hause fühlen. Bis ich zu Flint und seinem Baum komme.« Seufzend lehnte er seinen Kopf gegen Caramons starken Arm. »Auf alle Fälle habe ich Flint eine Menge zu erzählen, nicht wahr, Caramon? Alles über die Umwälzung und das feurige Gebirge und wie ich dein Leben gerettet habe und Raistlin ein Gott geworden ist. Ich wette, das wird er nicht glauben. Aber vielleicht bist du ja dann bei mir, Caramon, und du kannst ihm ja sagen, daß ich wirklich nicht, nun – äh – übertreibe.«
»Sterben wäre sicherlich am einfachsten«, murmelte Caramon und sah sehnsüchtig zum Obelisken hinüber.
Lunitari ging nun auf, und sein blutrotes Licht vermischte sich mit dem leichenblassen Licht von Solinari, um einen unheimlichen, purpurroten Glanz auf das aschebedeckte Land zu werfen. Der vom Regen benetzte Steinobelisk glitzerte im Mondschein, und seine grob geschnitzten schwarzen Buchstaben waren auf der hellen Oberfläche deutlich sichtbar.