Wieder saßen sie eine ganze Weile schweigend da.
Wenn eine Freundschaft seit so vielen Jahren dauert, sagte sich Rhodes, dann zeigt sich eben, wie tief sie ist, wenn ein Moment kommt, wo es passender ist, gar nichts zu sagen, als irgend etwas Belangloses. Dass man einfach das Maul hält, und der Freund versteht es.
Aber nach einer Weile konnte er das Schweigen einfach nicht mehr aushalten. Er fragte leise: »Und? Paul? Was jetzt? Weißt du schon, was du machen willst?«
»Ja, das weiß ich.«
Rhodes wartete.
»Ich geh wieder in den Raum zurück«, sagte Carpenter. »Ich muss weg von hier. Die Erde ist beschissen und im Arsch, Nick. Für mich ist sie das jedenfalls. Außer dir habe ich hier keinen, an dem mir was liegt. Und Jeanne vielleicht noch. Aber die habe ich ja auch nicht richtig. Und ich möchte ihr Leben nicht noch mehr durcheinander bringen, als es schon ist, also ist es am besten, ich lasse sie ganz in Ruhe. Aber ich will nicht hier herumhängen und zusehen, wie alles immer mehr zugrunde geht.«
»Das wird nicht passieren«, sagte Rhodes. »Wir werden den Laden wieder so in den Griff bekommen, dass wir mit dem fertig werden können, was auf uns zukommt.«
»Wunderbar. Dann bringt das mal so gut in Ordnung, wie ihr könnt, Nick, und mach soviel Dampf dahinter, wie's nur geht. Aber ich, ich muss weg von hier.«
»In welches Habitat willst du denn gehen?«
»In keins. Weiter weg.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Rhodes. »Zum Mars? Ganymed?«
»Noch weiter, Nick.«
Zuerst war Rhodes ganz verwirrt. Dann überlegte er und entdeckte einen gewissen Sinn in dem, was Carpenter gesagt hatte.
»Das Sternenschiff-Projekt?«, fragte er ungläubig.
Carpenter nickte.
»Um Gottes willen, warum denn? Sind dir die L-5er nicht weit genug weg?«
»Bei weitem nicht! Ich will so weit fort, wie es nur geht, und noch einen Sprung weiter! Ich will diese Hölle loswerden. Mich reinigen von allem, was geschehen ist. Neu anfangen.«
»Aber wie kannst du denn das? Das Sternenschiff-Projekt ist doch …«
»Das kannst du für mich tun. Du kannst mich da mit reinkriegen. Nick, das ist doch ein Kyocera-Projekt. Und ab kommenden Montag bist du ein ganz hochrangiger Wissenschaftler in der Firma.«
»Das schon«, sagte Rhodes, obwohl ihn die Vorstellung erschreckte. »Ich nehme an – ja, ich werde dort einigen Einfluss haben. Aber das habe ich gar nicht gemeint.«
»Was hast du denn gemeint, Nick?«
Rhodes zögerte.
»Du willst da wirklich mit an Bord sein?«
»Ja. Ist das nicht klar? Genau das habe ich doch eben gesagt, oder?«
»Ja, aber – denk doch drüber nach, Paul! Die Augen …«
»Genau. Die Augen.«
»Willst du in sowas Monströses wie Farkas umgemodelt werden?«, fragte Rhodes.
»Ich will weg von hier!«, erwiderte Carpenter. »Nur das ist mir wichtig. Alles übrige ist nebensächlich. Okay, Nick? Hast du jetzt endlich kapiert? Gut. Fein. Ich will, dass du mir dabei hilfst. Setz deinen Einfluss ein, wie du's noch nie zuvor getan hast!«
Die Worte hatten etwas Leidenschaftliches, fand Rhodes. Aber keine Spur davon in der Stimme. Er klang, als redete er im Traum: Die Stimme war flach, ausdruckslos, gespenstisch gelassen. Rhodes erschrak.
»Ich will sehen, was ich tun kann«, hörte er sich selbst sagen.
»Ja? Tu das!« Wieder dieses geisterhafte Lächeln. »Es ist zum Besten, Nick.«
»Wenn du meinst.«
»Ich meine es. Ich weiß es, dass es so ist. Alles wirkt doch immer nur zum Besten, Nick. Alles.«
Kapitel 29
Carpenter legte sich in den G-Sitz zurück und betrachtete die Satellitenwelt Cornucopia, die direkt vor ihm herankreiselte. Er fühlte sich wunderlich ruhig. Er fühlte sich wie ein Seefahrer, der den Urvater aller Stürme ausgestanden hat und nun über eine stille, spiegelglatte See fährt.
Alles war arrangiert. Nick Rhodes hatte das alles erledigt: Er hatte die Obergötter bei Kyocera in Kenntnis gesetzt, dass er einen Kandidaten habe, der die freie Stelle in der Starship-Besatzung einnehmen könne, nachdem Farkas ausgefallen war; und er hatte recht deutlich zu erkennen gegeben, dass er erwarte, dass seine neue Firma diesen seinen Vorschlag ernstlich in Erwägung ziehen werde. Und dann war durch wundersame Manipulation der von Samurai in Unehren gefeuerte Mann, Paul Carpenter, trotz aller damit verbundenen Probleme, aufgerückt in die Position eines Ersatzmanns; er wurde durch das erste Kontaktgespräch gelotst und dann durch alle folgenden Tests. Und nun wurde er nach Cornucopia geflogen, wo die Besatzung auf ihre Reise ins Unbekannte vorbereitet wurde.
»Da! Schaut mal!«, sagte jemand in der anderen Reihe. »Da ist dieses Habitat, das explodiert ist. Also, die restlichen Trümmer.«
Carpenter schaute nicht hin. Er wusste: Über den ganzen L-5-Gürtel verstreut schwebte eine riesige Menge von Trümmern, die Reste von Valparaiso Nuevo kreisten wild und willkürlich umher, und die Säuberungsteams würden noch monatelang Leichen einsammeln und versuchen, die größten Trümmerstücke herumzuwuchten und auf Bahnen zu lenken, die sie zur Sonne bringen würden, ehe ihre Orbits sich verkleinerten und sie auf die Erde fallen würden. Aber er wollte das nicht sehen.
Er schaute lieber zur anderen Seite. Zurück und nach unten, wie ein Landstreicher: heim zur Erde.
Und wie schön sie war!
Ein vollkommener blauer Ball, hell strahlend, von Bändern von Weiß bedeckt. Die von der Menschheit zugefügten Verletzungen waren nicht sichtbar. Aus dieser Entfernung waren der Dreck, die Zerstörung, die Fäulnis nicht mehr wahrnehmbar. Nichts mehr zu sehen von den öden neuen Wüstengürteln, wo noch vor etlichen Generationen fruchtbares Ackerland gewesen war, von den dampfenden pilzartig wuchernden Wäldern in den von Menschen verlassenen Städten, nichts von den untergegangenen Küstenlinien, nichts von den Giftklumpen in den Meeren, nichts von den farbenprächtigen Pollutionsstreifen in der Atmosphäre, nichts von den endlosen langen Meilen ausgedörrten, verbrannten Ödlands, durch das er auf seiner fieberhaften Flucht nach Chicago und zurück gekommen war … Nein, von hier oben, von außerhalb der Stratosphäre war die Erde einfach hinreißend und überwältigend schön.
Eine wunderschöne Welt. Ein Juwel von einem Planeten.
Was für ein Jammer, dachte Carpenter, dass wir das so versauen mussten! Dass wir in einer grandiosen Orgie von Dummheit jahrhundertelang unser eigenes Haus, unser eigenes Nest zur Kloake gemacht und unsere wundervolle und vielleicht einzigartige Welt in einen Ort des Schreckens verwandelt haben … Und der fährt nun fort in seiner eigenen Umgestaltung, und mit einer Macht, die sich unserer Kontrolle entzogen hat, so dass uns nun kaum etwas anderes übrigbleibt, als uns selber ebenfalls zu verändern, wenn wir da weiter am Leben bleiben wollen.
Welche anderen Gefühle konnte man schon haben, wenn man auf diesen blauen Kuller hinuntersah, der so scheinbar vollkommen war, und wenn man daran dachte, was für ein Paradies er einst gewesen war und was der Mensch daraus gemacht hatte … außer Wut, Schmerz, Empörung und eine verzweifelte Beklommenheit? Und was hätte einer sonst tun sollen, als sich heulend und schreiend an die eigene Brust zu schlagen?
Und trotzdem … und dennoch …
Du musst es langfristig sehen, befahl er sich.
Die Beschädigung war nur eine temporäre. Alles würde wieder in Ordnung kommen. Natürlich nicht so schnell. Es gab Leute, die sagten, der Planet Erde ist schwer verwundet; schön, irgendwann würde der Planet wieder gesund werden. Andere sagten, der Planet ist nur besudelt; schön, wenn das so war, würde der Planet eben eine gewisse Zeit benötigen, um sich zu reinigen. Aber das würde die Erde tun. Ganz bestimmt. Alles würde wieder in Ordnung kommen. Und wenn es hundert Jahre, tausend, eine Million Jahre dauern sollte – die Erde würde sich wieder selbst reinigen. Der Planet hat immens viel Zeit – wir nicht, dachte Carpenter, aber der Planet hat sie. Das Leben würde weiterbestehen. Nicht unbedingt so, wie wir es kennen, aber Leben in irgendwelcher Form. Und wenn wir auf der Erde durch eine andere Lebensform ersetzt werden müssen, weil wir so miserable Verwalter des uns anvertrauten Gutes waren, warum nicht? Warum denn nicht? Die eine Art versagt, irgendwann tritt eine andere an ihre Stelle. Das Leben ist hartnäckig. Das Leben lässt sich nicht unterkriegen.