»Insgesamt sind es neunzehn«, berichtete er Farkas. »Elf davon sind Frauen.«
»Na und? Eine Geschlechtsumwandlung ist doch weiter nichts Ungewöhnliches«, sagte Farkas.
»Stimmt. Aber die Frauen sind alle unter fünfzig. Und der älteste von den Männern ist zweiundsechzig. Und die längste Aufenthaltsdauer bei ihnen sind neun Jahre.«
Farkas wirkte wenig beeindruckt. »Und du meinst, damit scheiden sie aus? Ich nicht. Alter lässt sich ebenso leicht verändern wie das Geschlecht.«
»Aber die Daten der Einreise können das nicht, jedenfalls soweit ich weiß. Und du sagst, dein Wu Fang-shui ist vor fünfzehn Jahren hier zugewandert. Und dein Mann kann einfach keiner von diesen Chinesen sein, außer du hast dich geirrt. Wenn er nicht gestorben ist, würde ich sagen, dann hat dein Wu Fang-shui sich irgendwie eine neue Rassenmischung besorgt.«
»Er lebt«, sagte Farkas.
»Bist du da ganz sicher?«
»Vor drei Monaten hat er noch gelebt und Kontakt mit seiner Familie auf der Erde gehabt. Er hat einen Bruder in Taschkent.«
»Scheiße«, zischte Juanito. »Dann fragt doch diesen Bruder, unter welchem Namen er hier lebt.«
»Das haben wir. Aber wir haben nichts herausbekommen.«
»Dann befragt ihn doch mit mehr Nachdruck.«
»Wir haben auch das versucht, zu nachdrücklich«, sagte Farkas. »Und jetzt ist diese Information nicht mehr erhältlich. Jedenfalls nicht von ihm.«
Juanito überprüfte seine neunzehn Chinesen trotzdem, nur um sicher zu sein. Es kostete nicht viel, auch kaum Zeit, und die Chance bestand ja immerhin, dass Dr. Wu seine Einwanderungspapiere irgendwie manipuliert haben konnte. Aber seine Nachforschungen verliefen im Sand.
Sechs der fraglichen Personen entdeckte Juanito auf Anhieb in einem Club in der Siedlung Havana de Cuba in der Speiche E, wo sie über irgendeinem chinesischen Spiel saßen, und sie ließen sich nicht stören und glucksten kichernd und schoben weiter ihre Porzellanscheibchen hin und her, während er dabei stand und kiebitzte. Sie verhielten sich einfach nicht wie sanctuarios. Flüchtlinge wiesen fast stets irgendeine Macke auf, hatten eine kaum verdeckte Wachsamkeit an sich. Nicht alle Bewohner von Valparaiso Nuevo lebten hier, um sich zu verstecken; die meisten waren auf der Flucht vor Strafverfolgung, ja; aber nicht alle. Diese Leute hier sahen einfach aus wie eine Gruppe wohlhabender chinesischer Händler, die um einen Tisch saßen und sich vergnügten. Juanito hielt sich lange genug bei ihnen auf, um zu erkennen, dass sie alle kleiner waren als er selbst, und das bedeutete, dass sie entweder nicht Dr. Wu sein konnten, der für einen Chinesen groß war, oder dass der Doktor bereit gewesen war, sich zum Zweck einer besseren Camouflage die Beine um fünfzehn Zentimeter verkürzen lassen. Das war zwar möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich.
Die übrigen dreizehn Chinesen waren alle zu jung, zu überzeugend weiblich oder dies oder jenes. Juanito strich sie alle von seiner Liste. Er hatte von Beginn an nicht geglaubt, dass Wu noch immer ein Chinese sein werde.
Er suchte weiter. Eine Spur verlor sich, eine zweite und eine dritte. Er wurde allmählich nachdenklich. Dr. Wu musste irgendwie davon gehört haben, dass ein augenloser Mann nach ihm suchte, und war noch weiter in den Untergrund abgetaucht oder hatte Valparaiso ganz verlassen. Juanito bezahlte einen Freund im zentralen Spaceport, auf eventuell passende Abflüge zu achten. Aber das brachte auch nichts. Dann erinnerte ihn jemand daran, dass in und um die Siedlung El Mirador im Arm D eine Kolonie von uralten hartgesottenen Altasylanten existierte, Typen, die von einer durchwachsenen Abneigung gegen Störungen jeglicher Art beseelt waren. Juanito begab sich dorthin. Da bekannt war, dass er selbst der Sohn eines ermordeten Flüchtigen war, trat ihm niemand zu nahe: Schließlich würde so einer ja bestimmt jemand anderen jagen, oder?
Sein Besuch zeitigte keine direkt brauchbaren Ergebnisse. Er durfte es nicht riskieren, Fragen zu stellen, und ihm fiel nichts auf, was ihn irgendwie hätte weiterbringen können. Trotzdem verließ er El Mirador mit dem starken Gefühl, dass hier seine Antwort zu finden sei.
»Bring mich hin«, forderte Farkas.
»Das kann ich nicht machen. Es ist ein mieses Dorf. Fremde sind nicht erwünscht. Und du würdest auffallen wie ein Dinosaurier.«
»Bring mich hin!«, wiederholte Farkas.
»Wenn Wu dort ist und dich auch nur flüchtig sieht, dann weiß er sofort, dass 'ne Fahndung nach ihm raus ist, und er verduftet so schnell, dass es keiner glaubt.«
»Bring mich nach El Mirador!«, sagte Farkas. »Ich bezahle dich für Serviceleistung, und du bringst sie, ja? War das nicht die Abmachung?«
»Das ist korrekt«, sagte Juanito. »Also gehen wir eben nach El Mirador.«
Kapitel 4
Es war zehn Uhr morgens, und Nick Rhodes wunderte sich noch immer über das Wetter. In Anbetracht der Jahreszeit und der zu erwartenden atmosphärischen Bedingungen war der Tag rätselhaft, ja wunderbarerweise klar und helclass="underline" die photochemische Intensität ganz niedrig, beim Nebel war es ebenso, und Stückchen blauen – also, jedenfalls beinahe blauen – Himmels lugten durch die unvermeidlichen kräftig gefärbten Schichten der Treibhausbrühe und den dahinter liegenden gewohnten unheilvollen weißen Hintergrund. Rhodes hatte als Junge in Geschichtenbüchern von blauen Himmeln gelesen, aber im Verlauf der letzten etwa dreißig Jahre bot sich ihm wenig Gelegenheit, sie wirklich zu Gesicht zu bekommen. Doch heute war die Luft aus irgendwelchen Gründen sauber. Also, jedenfalls relativ sauber. Von seinem Büro aus, das im dreizehnten Stockwerk des schlanken graziösen Turms von Santachiara Technology lag, oben am höchsten Kamm der Berkeley-Berge, nur ein paar Meilen südwärts vom Campus der Universität, hatte er einen Ausblick von dreihundertsechzig Grad über die ganze Region der San Francisco Bay: die Brücken, das glitzernde Wasser, die hübsche kleine Spielzeugstadt jenseits der Bucht, die weiter landwärts rollenden runden Hügelberge in seinem Rücken mit ihrem hellen löwenfarbenen Fell von vertrocknetem Gras. Aus dieser Entfernung konnte man nicht sehen, dass die Außenflächen nahezu eines jeden Gebäudes von den unablässigen Dünsten und Dämpfen fleckig und zerfressen waren. Und dann da droben die Himmelskuppel, und heute war sie zu einem großen Teil blau, grandios und unglaublich. An einem solchen Tag konnte man sich unmöglich auf seine Arbeit konzentrieren. Rhodes schritt von einem Fenster zum anderen, bis er die ganze Runde vollendet hatte.
Ein grandioser Tag, o ja. Aber er wusste, lange konnte es nicht so bleiben. Und er behielt recht.
Das Warnlicht blinkte, und die kühle Androidenstimme sagte: »Dr. Van Vliet wartet auf Drei, Dr. Rhodes. Er möchte wissen, ob es schon eine Reaktion auf seinen Bericht gibt.«
Rhodes hatte das Gefühl, als sackte ihm der Magen weg. Es war noch viel zu früh am Tag, um sich mit Van Vliet und den Komplikationen zu befassen, die der Mann bedeutete.
»Sag ihm, ich habe eine Besprechung und dass ich ihn leider zurückrufen muss«, sagte er automatisch.
Nick Rhodes war Associate Research Director des Survival/Modification Program in Santachiara Technologies, und das hieß, er verdiente sein Geld damit, dass er nach Methoden suchte, wie man menschliche Wesen so verändern konnte, dass sie dann entweder übermenschlich oder subhuman waren; Rhodes selbst war sich nicht ganz sicher, was von beidem. Santachiara Tech waren eine Tochter von Samurai Industries, des Gigantokonzerns, dem fast alle Bereiche des Universums gehörten, die nicht im Besitz von Kyocera-Merck, Ltd. waren. Und Alex Van Vliet war wahrscheinlich der klügste, sicher aber der aggressivste Kopf im Santachiara-Team junger, vor Ehrgeiz brennender Gentechniker. Und angeblich hatte er einen brandneuen Adapto-Plan entwickelt, der auf Haemoglobinersatz basierte und von dem diejenigen, die ihn während seiner Lunchpause darüber dozieren gehört hatten, sagten, er besitze echte ›Durchbruchchancen‹. Es war ein neuer Gesichtspunkt, schön und gut, aber Rhodes fand ihn auf unbestimmte Weise bedrohlich, ohne recht zu begreifen, weshalb. Und gerade jetzt, in diesem Augenblick, lag ihm sehr viel daran, ein Gespräch mit Van Vliet zu vermeiden.