Nicht aus Ängstlichkeit, versicherte Rhodes sich selbst. Einzig aufgrund einer gewissen moralischen Unsicherheit. Das machte einen Unterschied, redete Rhodes sich stets gern ein. Früher oder später würde er diese innerlichen Widersprüche, in die er sich letzthin verstrickt sah, klärend sortieren, und dann würde er sich mit Van Vliet befassen. Aber bitte nicht gerade jetzt, dachte er. Nicht jetzt, okay?
Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück.
Sein Arbeitsplatz sah enorm bedeutend aus: Eine glatte bumerangförmige Platte hochglanzpolierten Holzes, rötlich gemasert, ein für sagenhafte eine Million Dollar aus dem Kern eines südamerikanischen Regenwaldriesen geschnittenes Stück Holz. Und die Platte war ebenso bedeutungsschwanger von ›Arbeit‹ bedeckt. In dieser Ecke Stapel von Datenwürfeln, dort Videos, ein hoher Berg von Virtualitäten, darunter auch Van Vliets Simulationen und Vorschläge, ganz am Rand der Platte. Auf der linken Seite, versenkt unterhalb der Platte, befand sich eine Batterie von Kontrollknöpfen für sämtliche elektronischen Spielzeuge im Raum; rechts, in einem Hängeschränkchen und durch ein Kristallschloss gesichert, befand sich ein kleiner Vorrat von Cognacs und Whiskeys, die Privatreserve des Dr. phil. Nicholas Rhodes. Und mitten in alledem, neben dem Lautsprechergitter der Hauskommunikation, war der elegante sechsseitige Holochip, den seine Freundin, Isabelle Martine, Rhodes zu Weihnachten geschenkt hatte, der (wenn man ihn im richtigen Winkel ansah) in feurigen Lettern das Sechs-Worte-Mantra zeigte, das Rhodes formuliert hatte, um die speziellen Zielsetzungen seiner Abteilung präzise in Worte zu fassen, ein Wort pro Fläche:
KNOCHEN – NIEREN
LUNGEN – HERZ
HAUT – HIRN
Süß von ihr. Besonders da Isabelle grundsätzlich nur Verachtung für seine Arbeit übrig hatte und heimlich hoffte, sie würde erfolglos bleiben. Rhodes hob das Mantra hoch und drehte und rollte es in der Hand, als wäre es eine übergroße Sorgenperle. KNOCHEN. LUNGEN. HAUT. Ja. NIEREN. HERZ. HIRN. Er blickte ein paar Augenblicke lang starr auf die Zeichen HIRN. Ach ja, da lag das wirkliche Problem, dachte er, das echte Unheil liegt im Bewusstsein, im HIRN.
Das Intercom blinkte wieder heftig, und diesmal sagte die Stimme: »Meshoram Enron, auf Zwei.«
»Wer?«
»Meshoram Enron«, wiederholte das Automaton mit exakter Aussprache. »Der Journalist aus Israel. Du wolltest heute mit ihm zum Lunch gehen.«
»Oh. Ja, richtig.« Rhodes zögerte. Er war in diesem Moment auch nicht wirklich in Stimmung, sich mit Enron zu treffen – jedenfalls schon gar nicht unter vier Augen. »Sag ihm, ich schaffe die Lunchverabredung nicht, und wie es mit Dinner wäre.« Gedankenlos griff er nach Van Vliets Virtualkonvoluten, legte sie wieder weg, zog sie wieder zu sich heran und starrte darauf, als wären sie gerade erst jetzt bei ihm auf dem Tisch gelandet. »Und falls er zusagt, rufe für mich Ms. Martine an und lege sie mir dann herein, wenn du sie erreicht hast. Ich möchte, dass sie uns Gesellschaft leistet.«
Einige Minuten später kam von dem Androiden der Bericht: Mr. Enron werde sich freuen, mit ihm zu dinieren. Ob Dr. Rhodes ihn vielleicht um halb acht in seinem Hotel in San Francisco abholen könne? Was Ms. Martine angehe, die sei telefonisch nicht erreichbar, aber man habe bei der Nummer eine Suchnachricht hinterlassen. Ferner gebe es eine weitere Nachricht von Dr. Van Vliet, der begierig auf die Möglichkeit warte, so bald wie möglich seine Vorschläge mit Dr. Rhodes persönlich zu besprechen, blahblah, und auf möglichst baldige Antwort warte, blahblahblah …
Ja. Blahblahblah. Auf einmal war es ein voller Tag. Rhodes begann sich bedrängt zu fühlen. Van Vliet rückte ihm auf den Pelz. Und dieser Enron wollte herumschnüffeln, um gottweißwas herauszufinden. Ein Spion, ganz ohne Zweifel. Diese Israelis waren auf die eine oder andere Art alle Spione, dachte Rhodes. Und was stand als nächstes an? Dabei war es erst zehn Uhr morgens. Schon Zeit für den ersten Drink?
Nein, entschied er scharf. Noch nicht.
Doch wenn es noch zu früh war für einen Schluck, und zu früh, sich Van Vliets Bericht vorzunehmen, dann setzte er nur Zauderei auf seine Tagesordnung, und auch das war wenig behaglich. In einem plötzlichen manischen Schub räumte Rhodes sämtliche bisher getroffenen Entscheidungen beiseite. Totale Richtungsänderung, das war die richtige Entscheidung. Er langte unter seinen Schreibtisch, entriegelte geschickt das Schloss seiner Schubladenbar, holte den Cognac heraus und kippte einen deftigen Schluck hinunter, überlegte kurz und nahm noch einen, diesmal kleineren Schluck. Dann, als die Wärme sich in seinem Körper auszubreiten begann, nahm er sich Van Vliets Vorschlagreport erneut vor und schob ihn in den Playbackschlitz.
Sogleich stand ein virtueller Alex Van Vliet vor ihm: klein, wie im wirklichen Leben, ein schmaler, drahtiger Typ, ein Kerlchen, frostige blaue Augen, winziges schmales Kinnbärtchen, geradschultrig und aufgereckt, um die schwächliche Gestalt imposanter erscheinen zu lassen. Rhodes selbst, der stämmig, groß und tapsig war, hegte einiges Misstrauen gegenüber kleineren, beweglichen Männern. Sie vermittelten ihm das Gefühl, als wäre er ein in die Enge getriebenes Gorillamännchen, das von einer Horde keckernder Affen bedrängt wird. Und Gorillas, die waren doch schon ausgestorben, eigentlich. Aber die kleinen Affen gediehen prächtig in den Dschungeln dieser neuen Welt.
Hinter Van Vliet, sein Bild umwabernd und vorwärts strebend wie ein aufgeklappter Nimbus, war ein 3-D-Muster von Farbpunkten zu sehen, die Rhodes fast sogleich als ein Beta-Strang-Haemoglobinmolekül identifizierte. Van Vliet sagte: »… es handelt sich um konjugierte Proteine und sie bestehen aus vier verschiedenen Hämatogruppen und dem Globinmolekül. Die Hämakomponente ist ein Porphyrin, in dem das eingeschlossene Metallion, das Eisen, im Zustand von Fe+2 befindlich ist. Die Globinkomponente setzt sich aus vier Polypeptidketten zusammen, die wir als Alpha, Beta, Gamma usw. bezeichnen, je nach ihrem Aminosäurenaufbau.«
Er war mitten in einer Vorlesung über die Funktionen von Haemoglobin gelandet. Rhodes erkannte, dass er das Video irgendwie an der falschen Stelle eingelegt hatte und Van Vliets Einführungen verpasst hatte. Aber das spielte keine Rolle. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie die gewesen wären. Am besten, man ließ die Sache ganz beiläufig auf sich einwirken. Oberflächlich.
»… ganz wesentliche Rolle des Haemoglobinpigments bei der Atmung der Säugetiere ist die lockere Verbindung mit Sauerstoffmolekülen, wodurch der Sauerstofftransport von der Aufnahmestelle des Organismus an den Ort seiner Nutzung ermöglicht wird. Doch das Haemoglobin besitzt zu zahlreichen anderen Molekülen ebenfalls eine Affinität: es verbindet sich beispielsweise leicht mit Kohlenmonoxid, was unheilvolle Auswirkungen auf den Körper hat. Auch mit Nitroxid verbindet es sich leicht. Sulfhämoglobin, also Haemoglobin plus Wasserstoffsulfidgas, ist eine weitere pathologische Form des Pigments. Hämatin, die Hydroxilverbindung …«
Beim Sprechen wanderte Van Vliet auf seiner virtuellen Bühne auf und ab, justierte die Molekularmodelle im Hintergrund mit raschen selbstsicheren Handbewegungen – wie ein Zauberkünstler, der seine Utensilien neu ordnet. Unter seinem geschickten Griff machten die leuchtenden Muster eine blitzschnelle Metamorphose durch und demonstrierten jede veränderte Haemoglobinform, die Van Vliet aufrief. Es waren sehr hübsche Farben. Rhodes genehmigte sich noch einen kleinen Schluck. Das brach das Eis. Nach und nach ließ seine Aufmerksamkeit nach, nicht so sehr wegen des Cognacs, sondern schlicht weil ihn das Ganze langweilte und ärgerte.