Выбрать главу

Vor so etwa vierzig, fünfzig Jahren waren die tiefer gelegenen Teile Berkeleys im Verlauf der ersten großen Fluten verschlungen worden, und bei Ebbe, so hatte man Carpenter erzählt, konnte man noch die Spitzen der alten abgesoffenen Häuser aus dem glitschigen Glitzerüberzug von Mikroorganismen auf dem Wasser der Bucht sehen. Doch seit der Errichtung der Mole hatte es hier keine gravierenden neuen Fluten mehr gegeben. Die Westküste war alles in allem bei der großen Überflutung der Küsten relativ gut weggekommen, die auf der Erde stark unterschiedlich schwer aufgetreten war: Als Katastrophen in China, Japan, Bangladesh, aber auch den östlichen Küstenstaaten der USA, besonders in Florida, Georgia, der Carolinaküste; im westlichen Europa dagegen gab es nur geringere Schäden – außer in Holland, Dänemark und den Ostseeanrainern, die so ziemlich verschwunden waren –, auch an den Pazifikküsten der beiden Amerikas war der Schaden nicht so schlimm. Und nun sagte man, dass das Abschmelzen der Polareiskappen im wesentlichen beendet sei und dass die restlichen Massen gefroren bleiben würden, zumindest für die unmittelbare Zukunft, so dass die Gefahr einer weiteren Zunahme der planetaren Wassermassen gebannt schien. Es ist immer erfreulich, dachte Carpenter, wenn man gesagt bekommt, dass alles wieder gefahrlos und in Ordnung sei, egal in welchem Zusammenhang. Auch wenn es nicht die Wahrheit ist.

Die Mittagssonne knallte hart und heiß herab, und die Luft war wie gewöhnlich, wie dicke Suppe. Rhodes verspätete sich, nichts Ungewöhnliches bei ihm. Carpenter trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen in der klebrigen Hitze, dann ging er die Rampe zur Mole hinauf und fächelte sich mit dem Hemd Kühlung zu und zupfte an seiner Atemmaske, die feucht und warm an der Wange klebte.

Er starrte auf die eleganten alten Brücken und die weite Bucht, die grün, blau und violett schimmernde Haut, wie auf einer schaumigen tropischen Pfütze, und auf die blitzende Eleganz San Franciscos auf der anderen Seite, und auf die schwere dunkle Masse des Mount Tamalpais im Norden. Dann blickte er in die andere Richtung, auf die Berge von Berkeley-Oakland, die dicht bebaut waren, aber immer noch weite Strecken Grasflächen aufwiesen.

Das Gras war jetzt überall braun und verdorrt und sah tot aus, aber Carpenter wusste aus seiner Kindheit, dass es innerhalb von einer oder zwei Wochen wieder zu frischem grünen Leben erwachen würde, sobald die Winterregen kamen. Ärgerlich war nur, dass die Winterregen sich hier nicht mehr sehr oft einstellten. Jahrein, jahraus herrschte die ganze Küste entlang ein endloser Sommer. Statt dessen wurden jetzt ehemalige Wüstenregionen wie etwa im Nahen Osten und Nordafrika von angenehmen Niederschlägen wie nie zuvor gesegnet, und die gesamte Zone im Südwesten der USA, von Osttexas bis Florida, hatte sich in einen einzigen gewaltigen Regenwald verwandelt und stöhnte unter der Last albtraumhafter gigantischer pelziger Schlinggewächse, riesiger Orchideenwucherungen und Kriechpflanzen mit glänzenden Blättern.

»Da bist du ja«, sagte eine tiefe heisere Stimme hinter ihm. »Ich suche dich schon überall.«

Nick Rhodes grinste ihm vom Fuß der Rampe her entgegen. Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht, schien es Carpenter. Rhodes trug keine Atemmaske, dafür aber eine luftige weiße Baumwolldschellaba mit auffälligen ägyptischen Motiven. Die dichten lockigen braunen Haare hatten einen Anflug von Grau und waren an den Schläfen merklich schütterer geworden, seit Carpenter ihn zuletzt gesehen hatte, und er wirkte müde und ausgelaugt. Das runde Gesicht war fleischiger, fast feist geworden. Sein überschwängliches Grinsen wirkt irgendwie gezwungen, dachte Carpenter. Da stimmte etwas nicht. Ganz eindeutig.

»Der Herr Doktor«, sagte Carpenter. »Na endlich. Die Pünktlichkeit in Person, wie üblich.« Er stieg zu Rhodes hinunter und streckte ihm die Hand entgegen. Dieser ergriff sie, zog Carpenter zu sich und umarmte ihn heftig, Brust an Brust und Wange an Wange. Carpenter war groß, doch Rhodes war noch ein Stückchen größer und viel breiter und massiger, und so fiel die Umarmung ziemlich heftig aus.

Dann lösten sie sich und betrachteten einander. Sie kannten einander mehr oder weniger schon ihr Leben lang. Rhodes, der zwei Jahre älter war, war zunächst der Freund von Carpenters etwas älterem Bruder gewesen, damals in der fernen Kindheit in Südkalifornien. Aber als sie halbwüchsig wurden, war Rhodes für den Geschmack des älteren Carpenter doch ein bisschen zu verträumt und zu verletzbar geworden, aber rätselhafterweise tickten er und Paul richtig zusammen.

Ihr Leben war die ganze Zeit parallel verlaufen; bald nach dem Collegeabschluss waren beide in das riesige Firmenunternehmen der Samurai Industries eingetreten; mit dem einen Unterschied, dass Rhodes eine echte wissenschaftliche Begabung besaß, während Carpenters geistige Hauptinteressen sich auf weniger steinige Felder wie Geschichte und Anthropologie richteten, wo eine echte Karriere nicht denkbar war. Und so hatte Rhodes sich auf Biogentechnik verlegt, einen erfolgsträchtigen Weg mit raschen Aufstiegschancen, bei dem die Firma für die Kosten der Promotionsarbeit und die Forschungsarbeiten in der Folge aufkam; und Carpenter hatte sich als nichtspezialisierter Azubi für Management verpflichtet, und er wusste, dass dies für ihn eine Reihe völlig unvorhersehbarer, immer anders gelagerter Firmenbereiche bedeuten würde, und er völlig von den Launen seines Arbeitgebers abhängig sein würde. Aber wie verschieden und kompliziert ihr Leben seit damals auch verlaufen war, sie hatten es immer irgendwie zustande gebracht, sich Gefühle einer Art zärtlicher, aber zäher Freundschaft zu bewahren.

»Also«, sagte Carpenter, »es ist ja wirklich ganz schön lange her.«

»Ja, weiß Gott, Paul. Was für eine angenehme Überraschung. Lass mich dir sagen, du siehst großartig aus!«

»Wirklich? Das macht das Leben in dem berühmten Spokane. Der Wein, die Weiber, der Wohlgeruch der Blumen. Und du? Läuft alles glatt? Privat, mit der Arbeit?«

»Wundervoll.«

Carpenter hätte nicht sagen können, ob da Ironie mitschwang. Wahrscheinlich.

»Gehen wir hinein«, sagte er. »Du musst den Verstand verloren haben, dass du ohne Atemmaske im Freien herumläufst. Oder hast du dir die Lunge mit Vanadiumstahl retrofitten lassen?«

»Wir sind hier nicht in deinem Inlandimperium, Paul. Hier gibt's tatsächlich noch sowas wie eine Brise von der See. Es ist durchaus unschädlich, hier ungefilterte Luft zu atmen.«

»Ach, ehrlich?« Carpenter zog sich die Maske ab und steckte sie ein. Er war einigermaßen erleichtert. Dieser ganze Rummel mit den Schutzmasken war wahrscheinlich sowieso nichts als paranoide Überreaktion, vermutete er. In Städten wie Memphis, nun ja, oder Cleveland oder St. Louis, da hatte man es nötig, sich hinter möglichst vielen Filtern zu schützen, wenn man ins Freie ging. Die kaputte Luft dort traf einen wie ein Messer und schnitt einem wie ein Skalpell direkt durch die Lungen bis in die Eingeweide. Aber hier in der Bay-Region? Rhodes hatte recht. Noch war nicht die ganze Welt unbewohnbar geworden. Noch nicht völlig.

Rhodes schien in dem Restaurant beliebt zu sein. Es war ziemlich viel Betrieb, doch der Maître, ein seidig zirpender Android von leicht orientalischem Aussehen, begrüßte ihn mit theatralisch übertriebener Herzlichkeit und geleitete sie sofort zu einem Tisch hoch oben in der mittleren Kuppel, der mit seinem großartigen Blick auf das Wasser sicherlich bevorzugten Gästen vorbehalten war. »Was trinkst du?«, fragte Rhodes, kaum dass sie sich gesetzt hatten.

Überrascht bat Carpenter um ein Bier. Rhodes bestellte für sich Whiskey-on-the-rocks. Die Getränke kamen fast sogleich, und Carpenter beobachtete interessiert, wie hastig Rhodes sich ans Werk machte und wie geschwind er den Drink beseitigte.

»Eisbergskipper«, sagte Rhodes und ließ auf den Tischvisoren die Speisenkarten erscheinen. »Wie bist du denn auf die Idee gekommen?«