»Selbst wenn die Erde für menschliches Leben nicht mehr geeignet ist?«
Rhodes wandte den Blick ab. »Ich sehe den Widerspruch. Ich kann ihn ja kaum nicht sehen. Das alles beunruhigt mich sehr. Einerseits glaube ich, dass meine Arbeit für das Überleben der Menschheit grundsätzlich notwendig ist, aber andererseits entsetzt es mich, zu welchen Abgründen meine eigene Arbeit führen kann. Es reißt mich also wirklich in zwei verschiedene Richtungen gleichzeitig. Und ich marschiere weiter wie ein braver Soldat, mache meine Forschungsarbeit, erringe den einen und anderen kleinen Sieg – und versuche dabei, mich vor den Großen Fragen zu drücken. Und dann gelingt einem jungen Kerlchen wie diesem Alex Van Vliet der Durchbruch auf die nächste Ebene, jedenfalls sieht es so aus, beziehungsweise, er behauptet, er hätte es geschafft, und zwingt mich damit, mich den Letzten Fragen zu stellen. Ach, Scheiße. Bestellen wir unser Essen, Paul.«
Fast ohne darauf zu achten, drückte Carpenter die Knöpfe auf dem Tischmenü. Einen Hamburger, Fritten, Kohlsalat, angenehme alte Gerichte, höchstwahrscheinlich sämtlich aus synthetischen Zutaten oder aus Kalmaren und Algen recycliert, doch das machte ihm im Moment nichts aus. Er war nicht besonders hungrig.
Er stellte fest, dass Rhodes eine neue Runde Getränke herbeigezaubert hatte. Er schien Alkohol mit gelassener gleichmäßiger Regelhaftigkeit zu sich zu nehmen, saugte ihn sozusagen wie Luft in sich hinein, ohne große Wirkung erkennen zu lassen.
Er war also inzwischen ein Trinker. Schlimm. Aber im Grunde, stellte Carpenter fest, hat sich ja in den vielen Jahren seit der Schulzeit bei Rhodes nichts geändert. Schon damals war Rhodes oft zu ihm gekommen, hatte ihn um Rat gefragt und um so etwas wie Schutz vor seiner Neigung, sich in seinen eigenen Gedanken zu verirren, bei Carpenter zu finden. Und obwohl er jünger war, hatte er sich stets als der ältere von ihnen beiden gefühlt und besser gerüstet, mit alltäglichen Problemen zurecht zu kommen. Rhodes verstrickte sich immer gern in schwierige, von ihm selbst produzierte moralische Fragen – Mädchen betreffend, sein erwachendes politisches Bewusstsein, seine Lehrer, seine Erwartungen und Pläne für seine Zukunft, tausend Probleme –, und Carpenter, in seiner pragmatischen direkten Art, hatte es fertiggebracht, den älteren Freund durch die Irrgärten zu steuern, die dieser immer wieder um sich herum zu schaffen gezwungen schien. Und jetzt war Rhodes ein berühmter Wissenschaftler, genoss bei den Schwellschädeln der Firma hohes Ansehen, war unaufhaltsam in steilem Aufstieg begriffen, verdiente wahrscheinlich das Zehnfache; doch Carpenter spürte, dass Rhodes innerlich noch immer so ziemlich der gleiche war wie in ihrer Jugend. Ein großer hilfloser Junge, der durch eine Welt stolperte, die für ihn immer ein wenig zu kompliziert war.
Er fand es angebracht, zu einem etwas leichteren Gesprächstoff überzuwechseln. Carpenter fragte: »Und wie steht's mit deinem Privatleben? Du hast doch nicht etwa wieder geheiratet?«
Sofort erkannte er seinen Fehler. Blödmann!
»Nein.« Es war nicht zu übersehen, wie stark die Frage Rhodes zusetzte. Carpenter erkannte zu spät, dass das Scheitern seiner Ehe, das ihn vor acht Jahren so tief getroffen hatte, für Rhodes noch immer eine offene Wunde war. Rhodes hatte seine Frau schrecklich geliebt, und als sie ihn verließ, hatte ihn das schrecklich niedergeschmettert. »Ich habe eine Beziehung. Eine ziemlich schwierige. Schöne intelligente Frau, sexy, sehr gebildet. Wir sind nicht immer einer Meinung.«
»Welche Partner wären das schon?«
»Sie ist Radikalhumanistin. Alte Tradition in San Francisco, du weißt ja. Sie verabscheut meine Arbeit, fürchtet sich vor den möglichen Auswirkungen, würde es am liebsten sehen, wenn unsere Labors geschlossen würden, etc., etc. Nicht etwa, dass sie Alternativen anzubieten hätte, aber sie ist trotzdem dagegen. Reaktionärer Trip reinsten Wassers, komplette laienhafte Wissenschaftsfeindlichkeit, absolut mittelalterlich. Und trotzdem haben wir es fertiggebracht, uns zu verlieben. Abgesehen von der Politik verstehen wir uns ziemlich prächtig. Ich fände es schön, wenn du sie mal kennenlernen könntest, solange du hier in der Stadt bist.«
»Das können wir doch sicher irgendwie arrangieren«, sagte Carpenter. »Ich würde sie sehr gern sehen.«
»Ich fände es auch nett.« Rhodes überlegte einen Moment. »He, wie wäre es mit heute Abend? Isabelle und ich müssen zu einem Dinner mit einem von diesen Plagegeistern, einem israelischen Journalisten, der mir indiskrete Fragen über meine Arbeit zu stellen beabsichtigt. Ich könnte dich irgendwo in der City mitnehmen, so gegen viertel vor acht. In deinem Hotel, oder wo immer du meinst. Wie sieht dein Zeitplan aus?«
»Ich muss um halb vier wieder drüben in Frisco und im Samurai-Office zurück sein, um Indoktrinationsmaterial abzuholen«, sagte Carpenter. »Das dürfte bis fünf dauern. Danach habe ich nichts vor.«
»Du magst also mitkommen?«
»Warum nicht? Ich wohne im Marriott Hilton in China Basin. Weißt du, wo das ist?«
»Klar.«
»Aber hör mal. Wenn es sich da um ein Interview handelt, bist du sicher, dass ich euch da nicht störe?«
»Es könnte sich eventuell als ganz nützlich erweisen, wenn das so wäre. Um die Wahrheit zu sagen, ich hab eine Scheißangst, dass ich dem Mann Sachen erzähle, die ich nicht sagen dürfte. Und der ist wahrscheinlich verflixt geschickt darin, sie einem aus der Nase zu ziehen. Wenn Freunde dabei sind, wird das Gespräch lockerer. Je mehr, desto besser, denke ich mir, um zu vermeiden, dass die Sache zu sehr in die Tiefe geht. Deshalb nehme ich ja Isabelle mit. Und nun dich.« Rhodes setzte sein Glas ab und warf Carpenter einen neugierigen Blick zu. »Übrigens, wenn du möchtest, könnte ich dir für den Abend eine Partnerin besorgen. Eine Freundin von Isabelle, sehr attraktive, ein bisschen verrückte Person. Sie heißt Jolanda Bermudez. Tänzerin, oder Sängerin, oder beides.«
Carpenter lachte glucksend. »Bei meinem letzten Blind date war ich dreizehn.«
»Ich erinnere mich. Wie hieß die doch gleich? Die Sommersprossige?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Also, soll ich fragen, ob Jolanda mitkommen möchte?«, fragte Rhodes.
»Sicher«, erwiderte Carpenter. »Warum nicht? Je mehr, desto besser, wie du so schön gesagt hast.«
Kapitel 7
Die Außenhülle des Segments El Mirador war doppelwandig und bildete eine gewaltige hohle Kriechzone um die ganze Kugel El Mirador. An der raumwärts gelegenen Außenhülle war eine dicke Schicht Mondschotter, durch Zentrifugalkraft festgehalten, Abfall, der nach dem Entzug der für den Bau der Satellitenwelt nötigen Gase und Mineralien übrig geblieben war. Darüber lag ein niedriger freier Bereich, Zugang für Wartungsarbeiten, beleuchtet von dem schwachen Glimmen einer Kette von Glühbirnen; darüber lag die Innenhaut von El Mirador selbst, durch den Schotter gegen alle eventuellen Überraschungen gepanzert, die aus der Leere angerast kommen mochten. Juanito, mit seinem untersetzten Körperbau, konnte in dem Schacht fast aufrecht gehen, doch der langbeinige Farkas, der hinter ihm ging, musste sich tief bücken und stolperte unsicher dahin wie eine Krabbe.
»Siehst du ihn schon?«, fragte Farkas.
»Ich glaube, er ist irgendwo da vorn. Es ist ziemlich duster hier drin.«
»Wirklich?«
Juanito sah Wu flüchtig rechts, wie er sich seitwärts schob und langsam hinter Farkas schlich. In der trüben Beleuchtung war der Doktor nur wie der Schatten von einem Schatten wahrnehmbar. Wu hatte zwei Händevoll Mondschotter aufgehoben. Allem Anschein nach wollte er nach Farkas werfen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, und dann, wenn Farkas sich zu Wu wandte, war der Augenblick, in dem Juanito ihn mit dem Spike nageln sollte.
Juanito wich etwas zurück und platzierte sich neben Farkas' linkem Ellbogen. Er schob die Hand in die Tasche und legte die Fingerspitzen auf den Griff der kleinen kühl-glatten Waffe. Der Intensitätsknopf war ans untere Ende, auf Schockstärke, geschoben, und ohne die Waffe aus der Tasche zu ziehen, stellte er sie auf Tötungsstärke. Wu nickte ihm von der anderen Seite her zu.