»Ich sagte es dir doch schon«, stammelte Wu, »wir sind im Geschäft.«
»Gut. Sehr gut.«
An der Tischkante war ein Public Communicator in einem Clip befestigt. Ohne Wu und Juanito aus seiner Aufmerksamkeit zu entlassen, nahm Farkas den Knüppel mit der linken Hand auf, da er in der rechten Hand immer noch den Spike hielt, und gab die Nummer von Oberst Emilio Olmo von der Guardia Civil ein. Dabei ergab sich ein längeres Suchspiel, bis der Zentralcomputer ihn ausfindig machen konnte; und dann verlangte er eine Code-Identifikation des Anrufers. Farkas gab sie und setzte hinzu: »Das ist ein Kanal-17-Gespräch.« Dies bedeutete, dass die Verbindung per Scrambler geschützt werden solle. Danach trat wieder eine kurze Stille ein, nur gelegentlich unterbrochen von elektronischen Krächzgeräuschen.
Dann: »Victor?«
»Ich wollte dich nur wissen lassen, Emilio, dass die Ware zur Lieferung bereitsteht.«
»Von wo aus sprichst du?«, fragte Olmo.
»Von der Plaza in El Mirador.«
»Bleib da. Ich komme so rasch wie möglich. Ich muss mit dir sprechen, Victor.«
»Du sprichst gerade mit mir«, sagte Farkas. »Ich brauche weiter nichts als ein paar Leute von der Guardia, um die Ware sofort abzuholen. Ich sitze hier, direkt an der Plaza, und ich möchte nicht in aller Öffentlichkeit die Rolle des Verschiffungsagenten spielen.«
»Wo bist du? Genau? Exakte Ortsangabe.«
Farkas sagte zu Juanito: »Wie heißt das Café hier?« Mit Blindsicht zu lesen, fiel ihm schwer; es war nicht der exakt gleiche Prozess wie beim normalen Sehen, und Farkas wurde zu seinem Verdruss tausendmal jeden Tag daran erinnert.
»Café La Paloma«, antwortete Juanito.
»La Paloma«, wiederholte Farkas für Olmo.
»Bueno. Die Plaza-Streife holt euch in zwei Minuten ab. Wir transferieren die Fracht dann ins Depot, wie abgemacht.«
»Noch was solltest du wissen. Es gibt ein zusätzliches Frachtstück«, sagte Farkas.
»Oh?«
»Ich schicke den Kurierjungen mit ins Depot. Keine Sorge, ich liefere dir die Frachtpapiere wie gewohnt.«
»Wie du wünschst, mi amigo«, sagte Olmo mit leiser Verwunderung in der Stimme. »Er gehört dir, was immer du mit ihm vorhast, und ich bin froh, den los zu sein. Ich gebe ihn dir freimütig, wenn auch nicht kostenfrei, wenn du verstehst. Es dürften extra Frachtkosten entstehen, ja?«
»Das macht mir keine Sorgen.«
»Bueno. Die Übernahme wird sehr rasch erfolgen. Bleib an Ort und Stelle. Ich komme gleich zu dir, damit wir das bereden können. Es hat sich etwas ergeben, etwas Ernstes, und wir müssen darüber sprechen.«
»Ein Scrambler reicht da nicht aus?«, fragte Farkas verwirrt und ein wenig erschrocken.
»Bei weitem nicht, Victor. Es muss persönlich geschehen. Eine sehr delikate Angelegenheit. Sehr! Und du bleibst dort? Im Café La Paloma?«
»Unbedingt«, sagte Farkas. »Du erkennst mich an der roten Nelke im Knopfloch.«
»Was?«
»Nur ein Scherz. Kümmere dich jetzt um die verdammte Übernahme, Emilio, wenn es dir recht ist.«
»Sofort!«
»Bueno«, sagte Farkas.
Juanito fragte: »War das Colonel Olmo, mit dem du da gesprochen hast?« Es klang furchtsam.
»Wie kommst du auf die Idee?«
»Du hast ihn ›Emilio‹ genannt und verlangt, dass er die Guardia schickt. Wer sonst hätte es sein sollen?«
Farkas sagte achselzuckend: »Schön, also es war Colonel Olmo. Wir haben ab und zu geschäftlich miteinander zu tun. Wir sind Freunde, sozusagen.«
»Heilige Gottesmutter Maria!«, krächzte Juanito und machte eine Geste, die Farkas als Bekreuzigung erkannte: ein laterales und vertikales Hüpfen der mittleren Paare der sechs blauen Kugeln, die für ihn Juanitos sichtbaren Körper ausmachten. »Du und Olmo, ihr seid amigos? Und du kannst ihn einfach so anrufen und mit ihm reden. Dann bin ich echt im Arsch.«
»Ja, das bist du wirklich«, sagte Farkas. »Todo jodido, heißt das nicht so bei euch?«
»Si«, sagte Juanito kläglich. »Estoy jodido, völlig und ganz im Arsch!« Er wandte sich ab und blickte ins Leere. Wu gab ein dünnes Kichern von sich. Wie hübsch für ihn, dachte Farkas. Er kann sich über Juanitos Bedrücktheit amüsieren. Das bedeutet, er hat aufgehört, sich um seine eigene Sicherheit Gedanken zu machen. Die Vorstellung gefiel Farkas, dass die Person, die ihm sein eigenes Leben so beiläufig und leichthin irreparabel verändert hatte, vor vielen Jahren, immer noch grundsätzlich indifferent gegenüber den Umständen geblieben war, ein gefühlloser Techniker, emotionslos wie eine Naturgewalt.
Sekunden später sah Farkas aus der Richtung, in die Juanito starrte, zwei Schatten zielstrebig auf sich zukommen: ein rotes Tetraeder auf Spillerbeinchen und ein senkrechtes smaragdgrünes Säulenpaar, das durch drei parallele goldene Streifen verbunden war. Das musste die örtliche Guardia-Streife sein, erkannte er. Olmo arbeitete rasch. Aber, natürlich honorierten K-M ihn sehr großzügig für seine Kooperation. Und Valparaiso Nuevo war ein sehr gut funktionierender Polizeistaat, und die Guardia verfügte wahrscheinlich über hervorragende Kommunikationstechniken.
»Mister – Farkas?« Das war das Tetrahedron, das ihn ansprach. Ein leises Zögern in der Stimme, ein unmerkliches Verzögern der Aussprache der Wörter. Farkas wusste, was das bedeutete: Beim ersten Anblick seines augenlosen blanken Gesichts reagierten die Leute oft so. »Colonel Olmo hat uns herbefohlen. Zwei Männer, sagte er, die wir mitnehmen sollen.« Es klang recht unsicher.
»So genau habe ich mich ihm gegenüber nicht geäußert. Ich sagte, zwei Personen, mehr habe ich nicht gesagt. Ein Junge und eine alte Frau, das nur nebenbei«, sagte Farkas. »Die zwei da.«
»Jawohl, Sir. Freut mich, zu deinen Diensten zu sein, Sir.«
»Olmo hat euch doch klargemacht, dass den beiden nichts geschehen darf? Ist das klar? Ich wünsche nicht, dass ihr sie verletzt. Setzt sie einfach in Gewahrsam, bis die Deportationsformalitäten abgeschlossen sind. Habt ihr mich verstanden?«
»Jawohl, Sir. Selbstverständlich, Sir.«
Farkas sah zu, wie sie Juanito und Wu wegführten.
Jetzt, da er nicht mehr zwei Gefangene zugleich zu bewachen hatte, erlaubte er es sich, sich zu entspannen. Er lehnte sich zurück und betrachtete die Szenerie der gepflasterten Plaza.
Eine seltsame Leere kam über ihn.
Seine Aufgabe hatte er erfüllt, ja, und bemerkenswert leicht. Dennoch war es schon seltsam, Wu nach all diesen Jahren, in denen er sich ausgemalt hatte, was er mit dem Mann machen würde, falls er ihn jemals ausfindig machen sollte, einfach so davonkommen zu lassen, ohne irgend etwas gegen ihn zu tun.
Verkleidet als eine ältliche zimperliche Frauensperson. Schön, schön, schön!
Es wäre verdammt leicht gewesen, dort hinten in der düsteren Mondsplit-Abgeschiedenheit der Hülle, Wu die Daumen auf die Augäpfel zu legen und zuzudrücken. Aber damit hätte er selber ja nicht das normale Sehvermögen gewonnen, das man ihm vor seiner Geburt fortgenommen hatte. Und er war sich nicht einmal sicher, ob er sich das normale Sehvermögen zurückwünschte, jetzt noch … aber es Wu heimzuzahlen, das hätte ihm schon eine gewisse Befriedigung verschafft.
Doch es war auch wichtig, dass er sich mit diesem einen kleinen Augenblick selbstsüchtiger Rache seine Karriere zerstört hätte, und die verlief bisher recht befriedigend, ja höchst erfolgreich in vielerlei Hinsicht. Es hätte sich also für ihn nicht gelohnt.
Und dieser Junge …