»Aber gewiss doch. Es ist eine uralte Tradition. Als Josuah daran ging, uns über den Jordan zu führen, schickte er zwei Spione in das Land am anderen Ufer voraus, und die kehrten zurück und berichteten ihm, dass die Überquerung gefahrlos sei und dass die Leute, die drüben lebten, wie versteinert waren, als sie hörten, dass der HERR ihr Land den Juden geschenkt hatte. Diese zwei Spione sind in der Bibel nicht mit ihrem Namen aufgeführt. Es waren aber die ersten Geheimagenten.«
»Ich verstehe.«
»Und bis zum heutigen Tag senden wir unsere Kundschafter aus, damit sie Gefahren erkunden«, sagte Enron. »Daran ist doch nichts Unehrenhaftes.«
»Ihr Juden seht überall nur Feinde, wie?«
»Wir sehen Gefahren.«
»Wenn es Gefahren gibt, muss es Feinde geben. Aber die Zeiten sind doch längst vorbei, in denen es Kriege zwischen Völkern gegeben hat. Es gibt keine Feinde mehr. Wir sind heute alle Verbündete im Kampf zur Rettung des Planeten. Könnte es sein, dass diese Feinde, vor denen deine Leute sich so fürchten, einfach nur in eurer Vorstellung existieren?«
»Unsre Geschichte lehrt uns, dass wir auf der Hut sein müssen«, sagte er. »Dreitausend Jahre lang von einem Land zum andern vertrieben zu werden, von Menschen, die uns ablehnten oder uns beneideten, oder die uns ganz einfach als Sündenböcke missbrauchen wollten. Wieso sollte sich da heute etwas geändert haben? Wir müssten sehr dumm sein, wenn wir glauben würden, dass das Goldene Tausendjährige Reich angebrochen sei.« Auf einmal fühlte Enron sich in die Enge getrieben. Das war eine für ihn unbekannte Erfahrung. Er war an diesem Abend mit ihr zusammen, um Fragen zu stellen, nicht um welche zu beantworten. Aber sie erwies sich als recht zäh. Er trank einen großen Schluck von dem scheußlichen Wein. »Die Assyrer schlachteten uns ab. Die Römer brannten unseren Tempel nieder. Die Kreuzfahrer gaben uns die Schuld am Tod Christi.« Der Wein glitt nun etwas leichter durch die Kehle. »Hast du von den Todeslagern gehört, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Deutschen eingerichtet hatten?«, fragte er. »Sechs Millionen von uns ermordet, aus keinem anderen Grund, als weil sie Juden waren. Die Überlebenden gingen dann nach Israel. Rings um uns herum lebten Moslems, die uns hassten. Sie schworen, sie würden zu Ende führen, was die deutschen Nazis begonnen hatten, und sie haben es auch mehrmals versucht. Es ist nicht leicht, ein gelassenes, arbeitsames Leben zu führen, wenn am anderen Ufer des Flusses ein Feind lauert, der dir einen Heiligen Krieg erklärt hat.«
»Aber das war doch vor langer Zeit. Heute sind die Araber eure Freunde.«
»Es ist angenehm, das zu glauben, nicht wahr? Ja, der Reichtum aus ihren Ölquellen ist dahin, und obwohl unsere Region jetzt fruchtbarer ist als vor den Klimaveränderungen, sind die arabischen Länder doch stark überbevölkert, also können sie sich den Luxus ihres Heiligen Krieges nicht mehr erlauben, den sie sonst höchstwahrscheinlich gern fortsetzen möchten. Und deshalb wandten sie sich an ihre plötzlich angenehmen Nachbarn, die Israelis, und baten um technische und industrielle Unterstützung. Wir sind nun alle Freunde, ja. Partner. Doch das kann sich leicht ändern. Aber da sich die Lage auf der Erde zunehmend verschlimmert, könnten jene, die nicht über unsere Vorteile verfügen, beschließen, sich gegen uns zu wenden. Es ist früher auch schon so gewesen.«
»Ihr seid schrecklich argwöhnische Leute!«
»Argwöhnisch? Aber es gibt doch Grund genug dafür! Und darum bleiben wir stets wachsam. Wir schicken unsere Agenten überall hin, damit sie Ärger herausschnüffeln. So machen wir uns zum Beispiel Sorgen wegen der Japaner.«
»Die Japaner? Warum?«
Enron merkte, dass er einen leichten Schwips bekam. Auch das war bei ihm ungewöhnlich.
Er sagte: »Sie sind ein scheußliches Volk. Ich meine, so voller Hass. Sie besitzen solch große Reichtümer, und trotzdem sind sie elende Exilanten. Leben ihr paranoides, abgeschirmtes Leben in ihren kleinen Hochsicherheitsenklaven hier und dort auf der Erde, eingesperrt hinter Mauern, voll Zorn und Bitterkeit, weil sie ihre Heimat verlassen mussten, von allen anderen wegen ihres Geldes und ihrer Macht gehasst, und sie hassen doppelt zurück, weil sich ihr Hass aus derart heftiger Ablehnung und Neid nährt. Und am meisten hassen sie uns Israelis, weil auch wir einst Vertriebene waren, und weil es uns gelungen ist, in unsere Heimat zurückzukehren, und es ist ein wunderschönes Land, und weil wir stark sind und tüchtig und ihnen jetzt auf der ganzen Welt ihre Machtpositionen streitig machen.«
Seine Hand hatte dabei weiter zwischen ihren Schenkeln herumgetastet. Nun presste sie die Beine um sein Handgelenk, nicht sosehr, um ihn am weiteren Vordringen zu hindern, sondern um ihn dort spielerisch festzuhalten. Wollte sie nun reden, oder wollte sie Sex? Wahrscheinlich beides zugleich, dachte er. Beides schien bei ihr irgendwie zusammen zu gehören. Sie ist eine manische Schwätzerin, dachte er, diese Hyperdexdroge, die sie nimmt, löst das aus, und eine sexbesessene Nymphomanin ist sie auch. Ich sollte das ganze Geschwätz abbrechen und sie einfach runter auf den Teppich zerren. Und sie dann zum Dinner abschleppen. Er hatte ein Gefühl, als hätte er seit drei Tagen nichts mehr gegessen.
Aber auch er war irgendwie nicht fähig, seinen Redeschwall zu bremsen.
»Die Zufälligkeiten des Lebens in unserer Treibhauswelt«, hörte er sich sagen, »führten Israel in eine Spitzenposition als Wirtschaftsmacht, genau als die Japaner ihre Heimatinseln verlassen mussten. Wir bewegen uns auf vielen Gebieten gleichzeitig. Die israelische Regierung hat in den meisten Megamultis große Investitionen, wusstest du das? Wir besitzen beträchtliche Minoritätsanteile sowohl an Samurai wie an Kyocera. Aber die Megafirmen sind noch immer vorwiegend in der Hand der Japaner, und die geben sich alle Mühe, uns draußen zu halten. Ihr sehnlichster Wunsch ist es, uns aus unserer Spitzenposition zu vertreiben. Dazu ist ihnen jedes Mittel recht. Jedes. Also behalten wir sie im Auge, Jolanda. Wir behalten alle im Auge.«
»Und wenn Israel eine Adapto-Technologie entwickeln könnte, bevor es Samurai gelingt, dann würdet ihr eine gefestigtere Stellung in der künftigen Welt einnehmen?«
»Ja, das glauben wir.«
»Ich glaube, das ist falsch. Ich glaube, wir sollten die Erde aufgeben und statt dessen in den Weltraum gehen.«
»In die Habitate, ja? Deine große Zwangsvorstellung.«
»Du glaubst, ich bin dämlich?«
»Dämlich?«, rief er. »Aber nein, niemals!«
Er gab sich nicht die geringste Mühe, ernsthaft zu klingen. Inzwischen langweilte sie ihn und wurde ihm lästig. Erstaunt merkte er, dass auch sein sexuelles Interesse an ihr schwand. Sie ist keine Kamelstute, dachte er, sie ist eine Kuh, eine lächerliche Kuh mit der Wahnvorstellung, eine Intellektuelle zu sein.
Aber trotzdem zog er seine Hand nicht zurück.
Jolanda wiegte sich hin und her über seiner Hand und presste die Schenkel zusammen. Dann drehte sie sich ihm zu, riss die Augen auf und sah ihn seltsam flirtbereit und provozierend an, als hätte sie sich entschlossen, ihm ein ungeheuer wichtiges Geheimnis anzuvertrauen. »Ich sollte dir vielleicht sagen, dass ich möglicherweise nicht hier unten herumwarten werde, bis unsere Umwelt noch weiter zugrunde geht. Ich denke ernstlich darüber nach, schon sehr bald nach L-5 zu gehen.«
»Ach wirklich? Und hast du dir schon ein bestimmtes Habitat ausgesucht?«
»Ja, es heißt Valparaiso Nuevo«, sagte sie.
»Kenne ich nicht.« Sie saßen nun in fast völligem Dunkel und schauten in die Dunkelheit hinaus. Eine Katze, die er vorher noch nicht bemerkt zu haben glaubte, ein sehr hochbeiniges Tier mit schmalem kantigem Kopf war von irgendwo aufgetaucht und rieb sich an seinem Schuh. Die Weinflasche war leer. »Nein, wart mal, es fällt mir wieder ein. Eine Asylwelt, ja? Wo flüchtige Kriminelle untertauchen können?« Der Kopf schwamm ihm allmählich von der Hitze, dem endlosen Gequatsche, dem Wein, von seinem wachsenden Hunger, der bedrängenden Intensität von Jolandas Körper, vielleicht auch von den Nachwirkungen des Kontakts mit ihren bioresponsiven Skulpturen. Und wieder rührte sich das Verlangen in ihm, anfangs träge, dann mit wachsender Heftigkeit. Diese Frau konnte einen rasend machen mit ihrer Dummheit, aber sie war zugleich seltsam unwiderstehlich. Ihr Gespräch verirrte sich jetzt ins Surreale. »Wieso möchtest du denn dort hin?«, fragte er.