Carpenter betrachtete den Berg andächtig. Er war sehr viel mächtiger als jene, die er in seiner Trainingssimulation zu sehen bekommen hatte. Die letzten paar Millionen Jahre hatte der Klotz gemütlich über dem Südpol gesessen und sich wahrscheinlich nicht träumen lassen, dass er eines Tages so Richtung Hawaii driften würde. Aber die große Klimaverschiebung hatte für alle eine Menge geändert, auch für das antarktische Packeis.
»Himmel«, sagte Hitchcock. »Schaffen wir das?«
»Leicht«, sagte Nakata. Den kleinen wendigen Techniker schien nichts zu erschüttern. »Es wird 'ne Vierkrampensache, aber was soll's? Wir haben die Haken dafür.«
Klar. Sie hatten ausreichend Krampen an Bord der Tonopah Maru. Und Carpenter hatte Vertrauen in das Können von Nakata.
»Hast du gehört?«, sagte er zu Hitchcock. »Also holt ihn euch.«
Sie standen dicht an der mittelpazifischen Kälteschwelle. Die See ringsum war blau, ein Anzeichen für warmes Wasser. Doch direkt westlich, wo der Eisberg schwamm, war die Färbung ein sattes dunkles Olivgrün, Anzeichen für die maritime Mikrowelt, die in Kaltwasser gedeiht. Die Demarkationslinie war deutlich sichtbar. Dies war eine der komischen Sachen, die die Klimaverschiebung mit sich gebracht hatte: Ein Großteil der Erde war nun höllisch heiß, aber da kam dieser kalte Meeresstrom aus der Antarktis, schnitt sich bis in den mittleren Pazifik vor und ließ Eisberge auf die Tropen zutreiben.
Carpenter saß über seiner Triangulation, um zu berechnen, ob sie den Berg unter der Golden-Gate-Brücke durchschleppen konnten, als neben ihm Rennett auftauchte. »Da ist noch ein Schiff, Cap'n.«
»Was sagst du da?«
Aber er hatte sie nur zu genau verstanden.
Ein Schiff? Carpenter starrte die Frau an. Er dachte, Los Angeles, San Diego, Seattle, und überlegte, ob er um seinen Eisberg würde kämpfen müssen. So etwas passierte gelegentlich, wie er wusste. Hier war Freigebiet, eine so ziemlich offene Zone der Gesetzlosigkeit, in der sich eine uralte Art von Piraterie erneut ganz scheußlich ausbreitete.
»Schiff.« Rennett quetschte es seitlich aus dem Mundwinkel hervor, als täte sie ihm einen Gefallen, ihm überhaupt etwas zu sagen. »Genau auf der andern Seite von dem Berg. Caskie hat grad 'ne Nachricht aufgeschnappt. Sowas wie 'n SOS.« Sie reichte ihm einen schmalen Funkstreifen, auf dem nur ein paar Zeilen hellroter Thermoprintlettern waren. Die Worte griffen nach ihm, als fasste eine Hand durch das Deck. Er las laut:
BRAUCHEN HILFE * PROBLEME AN BORD * GEHT UM LEBEN UND TOD * DRINGEND ERFORDERLICH DASS IHR AN BORD KOMMT * SCHNELLSTENS * KOVALCIK # INTERIMKAPITÄN CALAMARI MARU
»Ach, Scheiß!«, sagte Carpenter. »Calamari Maru? Ist das ein Schiff oder eine zehnarmige Krake?«
Ein ziemlich schwacher Witz, und er wusste es. Rennett reagierte nicht, nicht mit dem winzigsten Lächeln. »Wir haben die Registratur gecheckt. Der Eigner ist Kyocera-Merck und der Heimathafen ist Vancouver. Als Kapitän ist Amiel Kohlberg eingetragen. Keine Angaben über einen Kovalcik.«
»Das klingt nicht nach 'nem Eisbergtrawler.«
»Es ist ein Kalmarfischer, Cap'n«, sagte sie mit einem verächtlichen Unterton in der Stimme. Als ob er das nicht wüsste. Er ging nicht darauf ein. Es kam ihm immer noch komisch vor, dass jeder, der zwei Tage länger auf See war als er, ihn wie eine dämliche Landratte behandelte. Was er allerdings tatsächlich war. Aber er kam damit zurecht. Bei der Bonusverteilung daheim in Frisco würde er den großen Kapitänsbrocken abbekommen, und sie eben nicht.
Er sah wieder auf den Ausdruck. Dringend hieß es da. Geht um Leben und Tod.
Mist. Mist-Mist-Mist!
Alles sausen zu lassen, um sich der Schwierigkeiten eines fremden Schiffs anzunehmen, passte ihm gar nicht ins Konzept. Er wurde nicht dafür bezahlt, anderen Kapitänen aus der Patsche zu helfen, schon gar nicht denen von Kyocera-Merck. Von allen Firmen nicht gerade K-M! Ganz gewiss nicht derzeit. In letzter Zeit gab es zwischen Samurai und K-M ziemlich böses Voodoo, schlimmer als gewöhnlich. Irgendwas mit dem Kontrakt zur Fruchtbarmachung der Wüste Gobi, diverse drastische Spionagesachen, die schiefgelaufen waren, irgend etwas von der Art. Außerdem hatte er, Carpenter, ja jetzt seinen Eisberg, um den er sich kümmern musste. Derzeit konnte er weitere Abenteuer wirklich nicht brauchen.
Außerdem stieg von ganz tief unten ein leiser bohrender Argwohn in ihm auf, mit einem ganz, ganz dünnen Anflug von Paranoia, hätte man vermuten können, nur dass eben Carpenter in den letzten dreißig Jahren eine so gründliche Ausbildung in der Realitätenschule des Lebens genossen hatte, dass er ganz und gar nicht sicher war, ob es so etwas wie Paranoia überhaupt gab. Die Welt wimmelte von Mistkerlen, die es immer darauf abgesehen hatten, dich reinzulegen. Und wenn du hier draußen an Bord eines fremden Schiffs gingst, dann liefertest du dich denen absolut aus. Was, wenn die einen Trick mit dir vorhatten?
Aber er wusste auch, dass man die Vorsicht zu stark übertreiben konnte. Ihm war nicht wohl bei der Überlegung, ein Schiff im Stich zu lassen, das in einem Notfall um Hilfe gebeten hatte. Vielleicht hatten ja die uralten Gesetze der Seefahrt – ähnlich wie alle sonstigen Reste des früheren anständigen Verhaltens zwischen Menschen – in dieser elendigen verwirrten, unter Überhitzung leidenden Zeit keine Gültigkeit mehr, doch er fühlte sich noch immer nicht völlig frei von Regungen wie Schuld oder Scham. Außerdem glaubte er daran, dass einem alles im Leben vergolten wird: Du lässt einen andern abfahren, wenn er dich um Hilfe bittet, und ziehst damit vielleicht prompt etwas später genau das gleiche auf dich herab.
Sie beobachteten ihn alle. Rennett, Nakata, Hitchcock.
Hitchcock sagte: »Was wirste jetzt machen, Cap'n? Gehst du rüber zu denen?« Ein Glitzern in den Augen, auf dem Gesicht ein boshaftes überhebliches Grinsen.
Was für ein ekliger Arsch, dachte Carpenter.
Er warf dem älteren Mann einen grimmigen Blick zu und fragte: »Du denkst also, es ist sauber?«
Hitchcock zuckte nichtssagend die Achseln. »Kann ich nich' sagen. Du bist hier Käp'n, Mann. Ich weiß bloß, die sagen, sie haben Trabbel und brauchen Hilfe.«
»Und wenn das irgendwie 'ne schiefe Nummer ist?«
Hitchcocks Blick blieb ruhig, unverbindlich, desinteressiert. Die breiten Schultern schienen von einer Seite des Schiffs bis zur anderen zu reichen. »Sie bitten um Hilfe, Cap'n. 'n Schiff braucht Hilfe, du bringst Hilfe, daran hab ich immer geglaubt, meine ganzen Jahre auf See. Aber vielleicht denken da die Leute weiter oben anders drüber. Und wie ich schon gesagt hab, du bist der Boss, nicht ich.«
Carpenter stellte fest, dass er sich wünschte, dieser Hitchcock würde seine verdammten alten Fahrensmannerinnerungen an die gute alte Zeit für sich behalten. Aber – scheiß drauf! Der Mann hatte recht. Ein Schiff in Seenot war ein Schiff in Seenot. Er würde also zu denen hinübergehen und nachsehen, was da los war. Selbstverständlich würde er das tun. Ihm war auf einmal klar, dass er von Anfang an gar keine andere Wahl hatte.
Er sagte zu Rennett: »Sag Caskie, sie soll diesen Kovalcik informieren, dass wir den Berg ansteuern und Markierungshaken anbringen, um unseren Besitzanspruch festzulegen. Das dürfte etwa anderthalb Stunden dauern. Und hinterher gehe ich dann vielleicht zu ihnen rüber und sehe nach, was sie für Probleme haben.«
»Verstanden«, sagte Rennett und ging unter Deck.
Inzwischen waren neuere Daten über den Berg hereingekommen. Carpenter konnte nun erstmals die Erosionsnarben über der Wasserlinie an der Aufwindseite des Eisbergs sehen, die Unterspülungen, die stark abbruchgefährdeten Überhänge, die sich da bildeten. Die Ausspülung bedeutete nicht unbedingt, dass der Berg kentern musste – das gab es bei Bergen von diesem Trockendocktyp selten –, aber sie würden es mit einer Menge lausiger Schwankungen zu tun bekommen, mit Krängen und Rollen in kabbeligem Wasser, kurz, einer echten verpissten Sache rundum. Der Tag entwickelte sich sehr schnell zu einer sehr ekligen Geschichte.