»Jesus!« Carpenter schob Nakata die Visuals hin. »Da, schau dir das mal an.«
»Kein Problem. Wir müssen ihn einfach mit den Krampen von Lee packen, das ist alles.«
»Yeah. Klingt gut.« Es klang so einfach. Irgendwie brachte Carpenter trotz allem ein Grinsen zustande.
Die Rückseite des Eisbergs war eine glatte senkrechte Wand, eine hohe weiße Klippe, porzellanglatt und gute hundert Meter hoch, mit einer bösen, ins Wasser vorgestreckten, etwa vierzig Meter langen Eiszunge wie ein Wellenbrecher. Auch die Calamari Maru benutzte sie dazu. Der Tintenfischfänger ankerte dicht hinter dieser Zunge.
Es gefiel Carpenter gar nicht, dass ein anderes Schiff sich so dicht an seinem Berg eingenistet hatte. Doch der Kalmarfänger war nur für seine Spezialaufgabe ausgerüstet und besaß keine Greifer und war also wohl kaum eine Bedrohung für seinen Berg.
Er gab Nakata, der weit vorn auf dem Vorschiff bei seinem Schaltbrett stand, ein Zeichen.
»Haken frei!«, rief Carpenter. »Und los! Los!«
Nakata winkte bestätigend zurück und legte die Hände auf die Steuertasten. Und eine Minute später erklang das Ächzen der sich öffnenden Greiferluke und das Rumpeln der Greifergestänge. Irgendwo tief im Bauch des Schiffs bewegte sich eine gigantische Mechanik in Position. Der große Eisberg lag reglos in der stillen See.
Es war ein wenig ähnlich wie in der Hochseefischerei, der Trick war nicht so sehr, die Beute an den Haken zu kriegen, sondern später in der Geschicklichkeit beim Einholen.
Der ganze Schiffsrumpf bebte, als der erste Haken in Sicht kam. Er schwebte hoch oben, ein erschreckendes Krallending, schwarz vor dem leuchtenden hellen Himmel, den es halb verdeckte. Dann drückte Nakata erneut auf seine Tasten, und der Greifer, am höchsten Punkt seiner Kurve angelangt, fuhr scharf und wuchtig abwärts auf die Flanke des Bergs zu.
Der Haken traf, schlug ein und hielt. Der Berg wich zurück, bebte, schwankte. Von den oberen Graten polterten Schauer von losem Eis nieder. Als sich die Wucht des Einschlags in die große Eismasse unter der Wasserlinie ausbreitete, wälzte sich die ganze Masse etwas weiter vornüber, als Carpenter erwartet hätte, und gab ein hässliches Schmatzen über dem Wasser von sich, und als der Berg wieder zurückrollte, schoss ein zwanzig Meter hoher Geysir empor.
Den armen Hunden an Bord des Kalmarschiffs würde das gar nicht gefallen. Aber sie hätten ja nicht dort vor Anker bleiben müssen, während ein Eisbergfang im Gang war, nicht wahr? Was hatten die denn erwartet? Einen kleinen Spritzer oder zwei?
Drunten am Bug machte Nakata seine ›Ich-hab-dich-Geste‹, einen ausgestreckten Mittelfinger über der Faust.
Vom Berg her wehte ein kalter Wind. Es war wie der Atem eines riesenhaften wunden Tieres, ein Hauch wie aus uralter Zeit, ein Hauch, der nach Fossilem roch.
Sie fuhren ein Stück weiter die Bergflanke entlang.
»Harpune Zwei!«, befahl Carpenter.
Der Berg war mittlerweile fast wieder stabil. Anscheinend war da mehr Masse unter Wasser, als sie angenommen hatten. Aber sie würden es schaffen. Carpenter auf seinem Beobachtungsposten im Kontrollturm an der Achterreling wartete auf das hochsteigende Gefühl von Freude und Erleichterung, das sich, wie alle ihm versichert hatten, nach der erfolgreichen Inbesitznahme einstellen sollte, doch da war nichts. Er verspürte einzig einen ungeduldigen Drang, rasch alle vier Haken anzubringen und zum Golden Gate zurückzuskippern.
Die zweite Harpune flog hoch, schwebte, senkte sich, traf und biss sich fest.
Wieder klatschte der Berg aufs Wasser, und wieder schoss schäumend das Wasser auf. Carpenter sah nur kurz, wie das andere Schiff auf und ab tanzte wie ein treibender Korken, und er überlegte, ob die Eiszunge, die die da drüben so angenehm gefunden hatten, abbrechen und sie ersäufen würde. Sie hätten weit klüger daran getan, anderswo zu ankern. Ach, zum Teufel mit ihnen. Er hatte sie gewarnt.
Der dritte Haken war einfacher.
Jetzt nur noch einen.
»Vier!«, rief Carpenter. Ein Vierer-Berg war etwas Besonderes. Massenhaft Gelegenheit, dass dabei die Leinen rissen oder sich die Trossen verhedderten. Aber Nakata beherrschte seinen Job. Noch einmal flog die Eisenkrampe durch die Luft, diesmal in steilem Bogen über die Spitze des Bergs auf die andere Seite, und dann hatten sie ihn, ihren Berg, dieses ganze monströse Eiland von treibendem Eis, fest an der Trense und gut verschnürt. Und jetzt brauchten sie nichts weiter zu tun, als den Berg mit Spiegelstaub einzupudern, ihm an der Wasserlinie einen Plastikschurz zu verpassen, um die Erosion zu verlangsamen, und ihn dann nach San Francisco zu schleppen.
So, alles in Ordnung, dachte Carpenter.
Und nun endlich hatte er ein wenig Zeit, sich mit dem verdammten Krakenschiff und seinen Problemen zu befassen.
Kapitel 13
Der Empfang meldete: »Dr. Van Vliet wartet auf Kanal Drei, Dr. Rhodes.«
Viertel vor neun am Morgen. Für Van Vliet war es offenbar nie früh genug, sich in die Mühen und Plagen des Tages zu stürzen. Allerdings war es noch viel zu früh für Rhodes, um mit dem täglichen Alkoholquantum zu beginnen. »Später«, knurrte er. »Ich will jetzt noch keine Gespräche reinhaben.«
Rhodes war bereits seit kurz nach acht in seinem Büro, enorm früh für ihn. Am Ende des vergangenen Arbeitstages hatten sich auf seinem Schreibtisch noch immer unerledigte Dinge gestapelt; die beiden Seitenklappen waren gleichfalls beladen gewesen; und wie gewöhnlich waren die ganze Nacht hindurch Dinge hereingeströmt, die er sich dringend gleich morgens vornehmen sollte. Auch das Wetter hatte sich verschlechtert: Eine erdrückende Hitzewelle, weit über der sowieso hohen Norm, wie man sie in jüngerer Zeit gewohnt war, und beängstigende Diablowinde, die glutheiß aus dem Osten herüberbliesen und wieder einmal die nun fast wöchentliche Gefahr von Flächenbränden in den knochentrockenen Grasregionen über Oakland und Berkeley mit sich brachten. Die Winde führten ebenfalls eine bedrückende Mistladung toxischer Dünste aus dem Stagnationstümpel des Tals herein, stark genug, die Häuserfronten pockennarbig zu zerfressen.
Darüber hinaus war seine Nacht mit Isabelle lausig gewesen, und er hatte nur höchstens drei Stunden Schlaf bekommen. Kurz, es war ein ganz und gar wundervoller Morgen. Rhodes war gereizt, ruhelos, gepackt von Anfällen von Wut und Verwirrung und fast von Panik. Seit fast einer Stunde ließ er jetzt die Räder kreisen – und hatte nichts geschafft.
Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Endlich.
»Sesam, öffne dich«, sagte er dumpf, und das Virtual One spuckte eifrig Datenschlangen in die Luft.
Bestürzt sah er zu, wie das alles heraussprudelte. Berichte, Berichte, Berichte. Quantitatives Zeug über Enzymabsorption aus dem Portland-Labor; eine lange öde Tirade von einer der Unterabteilungen über das von vornherein zum Scheitern verurteilte Projekt, Bürger im Seniorenstatus mit Lungenimplantaten zu versorgen, statt genetische Retrofits vorzunehmen; eine erschreckende Masse von Auszügen und Vorabdrucken aus Nature und Science, mit denen er sich in seinem jetzigen Leben nie würde beschäftigen können, weil ihm die Zeit fehlte; ein scheußlicher Haufen Mist über ein Belegschaftsratsgerangel, wobei es um die Entscheidung ging, ob Angehörige des Androidenwachpersonals im dritten Stock die Grenzen der ihnen übertragenen Verantwortung überschritten hätten; das Protokoll einer Konferenz einer Samurai-Tochtergesellschaft in São Paulo, von der er noch nie etwas gehört hatte, deren Arbeit aber anscheinend auf irgendeine unspezifische Weise an die Operationen von Rhodes' Abteilung grenzte. Und so fort, so fort, so fort.