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»Ich verspreche es dir, Charles, Gott ist mein Zeuge.«

Am Morgen des übernächsten Tages fuhren sie durch eins der zahlreichen Pariser Stadttore und warteten im Steuerhof auf die Zollbeamten. Jean-Baptiste zeigte den Passierschein des Pariser Gerichtshofes, und sie konnten ungehindert weiterfahren. Vereinzelte Bauern nutzten die sehr frühe Morgenstunde, um ihr Vieh auf die Märkte zu treiben. Nach Anbruch des Tages würde dies ein Ding der Unmöglichkeit sein. Jean-Baptiste liess sich den Weg weisen. Mit gemischten Gefühlen stellte er fest, dass man ihn immer tiefer in die verruchtesten Quartiere lotste. »Du suchst das Haus des verstorbenen Henkers?«, fragte einer. »Wir nennen es das Hotel des Henkers.« Es lag in der Rue Baltard im Schatten der gegenüberliegenden Häuser, die mehr Stockwerke hatten. Es war ein düsteres Haus, das von einem achteckigen Glockenturm überragt wurde. Das Gebäude, in dem man nachts angeblich die Seelen der Gehenkten und Geköpften wimmern hörte, lag an einem Marktplatz, der Tag und Nacht nach warmem Blut und Fischabfällen stank. Streunende Hunde liefen durch diese Brühe, die ihre Pfoten blutrot färbte. Hier hat es wenigstens Menschen, dachte Jean-Baptiste. Auch wenn diese ihn meiden würden, er würde trotzdem nicht ganz allein sein. Denn da war immerhin der Lärm tagsüber, der einem suggerierte, dass man nicht allein war. Seit Joséphines Tod hasste er die Einsamkeit.

Eine junge Frau Mitte zwanzig öffnete ihnen die Tür. »Ich bin Jeanne, die Tochter des Drechslers aus der Rue Beauregard«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. Doch das Gesicht des kleinen Charles blieb regungslos. Als sie ihre Hand nach ihm ausstreckte, wich er zurück, als würde er von einer glühenden Reisszange bedroht. Jeanne insistierte nicht. Sie war von mittelgrosser Statur und wirkte sehr robust. Man sah ihren runden Gesichtszügen an, dass sie viel Zeit in der Küche verbrachte. Das lange braune Haar hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr Gesicht umrahmten und es noch etwas fülliger aussehen liessen. Sie führte Jean-Baptiste und Charles durch das kleine und enge Anwesen. Die Holzdecke des Wohnzimmers war der Boden des darüberliegenden Schafotts, wo an Markttagen Diebe und Verbrecher am Schandpfahl ausharrten. Hinter dem Haus war ein Hof. Daran angrenzend ein Pferdestall, eine Pharmacie sowie ein Schuppen, den noch nie jemand betreten habe, wie Jeanne erklärte, mit Ausnahme des verstorbenen Henkers. Jetzt standen sie alle drei im Hof. Ein Hund kam wedelnd auf sie zu. Charles ergriff wieder den Arm seines Vaters und legte ihn quer über seine Brust. Der Hund schnupperte an seiner Hose.

»Kann ich den Schuppen sehen?«, fragte Jean-Baptiste.

»Fragen Sie mich nicht, was der alte Henker dort gelagert hat. Ich weiss es nicht. Aber manchmal hat es ganz schön gestunken.« Mit einem diskreten Blick auf Charles gab Jeanne ihm zu verstehen, dass der Schuppen eher nicht für Kinderaugen geeignet war. Sie legte ihre rechte Hand über Charles’ Augen und wich mit ihm zurück. »Wir warten draussen.«

Jean-Baptiste trat ein. Ein scheusslicher Gestank schlug ihm entgegen. Der süsslich-penetrante Duft der Verwesung. Unter dem offenen Fenster war eine Liege. Darauf ein geköpfter Leichnam. Der Kopf lag zwischen den Knien. Offenbar hatte sein Vorgänger der gleichen Leidenschaft wie Meister Jouenne gefrönt, dachte Jean-Baptiste, und die Leichen der Hingerichteten seziert, bevor er sie am nächsten Tag zum Friedhof fuhr. Er näherte sich der Leiche. Es war stets seltsam, einen Körper ohne Kopf zu sehen. Es war gegen die Natur. Doch nichts konnte ihn mehr erschrecken. Er wusste, dass das Schicksal kein Erbarmen kannte. Er hatte gesehen, wie Menschen starben, in der Neuen Welt und in der Alten Welt, und sie starben nicht anders als Hunde und Vögel. Er hatte unermessliches Leid erfahren, und kaum etwas konnte ihn noch rühren. Nur der kleine Charles konnte ihm ab und zu ein Lächeln abgewinnen. Er liebte seinen Sohn. In dessen Augen lebte Joséphine weiter. Wenn Charles sich an ihn schmiegte, fühlte er sich ihr am nächsten.

»Ich würde mich gerne um euch beide kümmern«, sagte Jeanne, als Jean-Baptiste wieder in den Hof trat. »Ihr Vorgänger war sehr zufrieden mit mir. Er mochte meine Küche. Nach einer Hinrichtung stopfte er wie ein Tier alles in sich hinein. Er war so fett, dass der Leichenbestatter einen grösseren Sarg bestellen musste.«

Jean-Baptiste nickte. »Ja«, sagte er wie zu sich selbst, »Charles wird jemanden brauchen. Er hat sich irgendwie zurückgezogen, in eine andere Welt. Ich finde keinen Zugang zu dieser Welt. Sie ist furchterregend und finster.«

»Ich habe noch Eier, Speck und Gemüse«, sagte Jeanne. Jean-Baptiste blickte sie dankbar an. In ihrer Stimme war Wärme und Zärtlichkeit. Und wenn sie schwieg, wurden ihre Gesichtszüge noch milder, noch weicher. Man wünschte sich, von ihr in die Arme genommen zu werden.

Der neue Haushalt erwies sich als äusserst harmonisch und friedvoll, doch dem kleinen Charles gelang es nicht, dem Gefängnis seiner Seele zu entkommen. Er konnte sprechen wie die Jungen in seinem Alter, aber er blieb stumm. Er hatte einfach nichts mitzuteilen. Nur den Arm seines Vaters brauchte er manchmal. Am liebsten verbrachte er seine Zeit in der Pharmacie hinten im Hof. Hier war noch alles so, wie es Jean-Baptistes Vorgänger hinterlassen hatte. Charles liebte den Geruch der Pharmacie, die Aromen der Heilpflanzen und den Duft von staubigen alten Büchern.

Währenddessen verrichtete Jean-Baptiste seine Arbeit und vollstreckte mit den Gehilfen, die er von seinem Vorgänger übernommen hatte, Strafurteile. Er erntete viel Lob von der Justizbehörde. Am Abend sass er gern in der Küche und schaute Jeanne beim Kochen zu. Aber er hielt es meist nicht sehr lange aus, denn ihre Fürsorglichkeit liess ihn seine geliebte Joséphine umso sehnsüchtiger vermissen. Dennoch hatte er zunehmend Mühe, sich ihre Gesichtszüge in Erinnerung zu rufen. Das Bild verblasste wie ein vergilbtes Stück Papier. Er hatte begonnen zu vergessen. Das schmerzte ihn unendlich. Es war wie ein Verrat an seiner grossen Liebe. Aber die Zeit war stärker. Wie die Wolken am Himmel zogen die Erinnerungen an ihm vorüber, lösten sich auf und kamen nur selten wieder. Nur in seinen Träumen sah er noch ihr Gesicht, hörte er ihre Stimme, und in dieser geheimen Welt küsste er sie. Und sie liebten sich erneut. Doch Paris verdrängte die Normandie. In Gedanken war er immer öfter bei seinen Leichen, die in seiner Vorstellung das Ausmass gigantischer Maschinen einnahmen, die man Stück für Stück entschlüsseln und begreifen konnte. Mit Jeanne sprach er nie über die Leichen. Sie wusste nicht, dass er sie sezierte.

Als sie ihn eines Tages fragte, ob er noch mehr Kohlsuppe wolle, antwortete er, er würde sie heiraten, wenn sie wolle. Er hielt eine Heirat für eine praktische Idee. Dann würde Jeanne den Haushalt nicht mehr verlassen. »Nur wenn Sie wollen, natürlich«, ergänzte er.

»Aber Monsieur Sanson«, erwiderte Jeanne mit gespielter Empörung und strahlte übers ganze Gesicht, »Sie haben mich noch nie geküsst, und Sie wollen mich heiraten?«

Er blickte von seinem Teller auf und schaute an ihr vorbei. »Muss ich Sie küssen, um Sie zu heiraten?«

»Ja«, sagte sie mit grosser Entschlossenheit und schmunzelte.

Er erhob sich vom Tisch und ging langsam auf sie zu. Er nahm sie in den Arm und hielt sie fest.

Jeanne drückte ihn so fest sie konnte an sich und schloss die Augen. »Sie müssen mich jetzt küssen, Monsieur Sanson«, sagte sie leise. Als er nicht reagierte, löste sie sich von ihm und schaute ihn misstrauisch an. »Sie weinen?«, fragte sie leise.

»Nein«, flüsterte er mit monotoner Stimme, »ich weine nicht. Der menschliche Körper besteht nicht nur aus Haut und Knochen, sondern auch aus Wasser. Und manchmal verliert er Wasser. Es ist nichts als Wasser, Jeanne. Es spült das Alte hinaus. Jetzt kann etwas Neues beginnen.«

»Lieben Sie mich denn, Monsieur?«, fragte sie.