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»Ich mag es nicht, wenn du dich über die Armut einiger deiner Mitschüler lustig machst«, sagte Charles eines Abends nach dem Klavierspiel.

»Ach je«, erwiderte Antoine und lachte, »ich mache doch nur Spass.«

»Niemand kann etwas dafür, dass er arm geboren wurde. Den Eltern dieser Schüler gebührt grosses Lob, dass sie sich einschränken, um ihren Söhnen eine Schule bezahlen zu können.«

»Mir kommen gleich die Tränen«, seufzte Antoine und spielte den Verzweifelten. »Sie würden ihre Söhne besser nicht auf solche Schulen schicken, denn später fehlt ihnen eh das Geld, um ein Amt zu kaufen. Was hat ihnen denn die Schule gebracht ausser Entbehrungen?«

»Es ist kein Verdienst, reich geboren worden zu sein.«

»Es ist doch ein Unterschied, ob ich Antoine Quentin Fouquier de Tinville heisse oder Charles … wie war schon wieder dein Nachname?«

»Ich bin der Sohn des Chevaliers Sanson de Longval«, entgegnete Charles und bereute gleich, dies ausgesprochen zu haben. »Mein Vater ist Arzt«, log er obendrein.

»Sanson de Longval? Noch nie gehört.« Antoine machte ein Gesicht, als hätte er soeben etwas Saures heruntergewürgt. »Aber dein Vater schickt dir nie Geld. Hat er keins, oder verhurt er es?«

»Ich habe genug«, sagte Charles, »ich bin hier, um zu lernen.«

»Du scheinst ein Herz für arme Leute zu haben, Charles. Weil deine Familie nichts hat? Ausser Hunger. Und den grossen Titten deiner Schwester.«

»Wir sind eine Familie von Ärzten. Unsere Aufgabe ist es, das Leid zu lindern. Wir lieben die Menschen, egal ob sie arm oder reich sind.«

»Ich mag nur dich hier, Charles, ich mag deine stille Art. Ich rede wie ein Wasserfall, und du hörst mir zu. Ich beleidige dich ab und zu, und du schweigst. Manchmal frage ich mich, was ich dir antun muss, damit du aufbegehrst. Platzt dir denn nie der Kragen?«

Charles schwieg.

»Das meine ich gerade. Nichts bringt dich aus der Fassung. Manchmal reizt es mich, dir ins Gesicht zu schlagen, einfach um zu sehen, wie du reagierst. Aber meine Arme sind wohl zu kurz.« Antoine lachte vergnügt. »Und ich bin kein mutiger Mensch. Ich bin eher ängstlich. Ich habe zwar ein grosses Mundwerk, aber tief in meinem Innern mach ich mir in die Hosen. Kannst du das verstehen?«

Charles nickte.

Antoine klopfte ihm auf die Schulter. »Aber erzähl es nicht weiter. Ich habe dir eben ein Geheimnis anvertraut.«

Charles nickte erneut.

»Am Samstagabend will ich in der Taverne zum Goldenen Fass essen gehen. Es gibt frisches Wild. Leistest du mir Gesellschaft? Ich lade dich ein.«

Charles zögerte.

»Bitte, Charles, Geld habe ich genug, aber ich brauche einen Freund.« Antoine gab ihm erneut einen aufmunternden Klaps auf die Schulter. »Antoine Quentin Fouquier de Tinville bittet zu Tisch.«

Jetzt musste auch Charles schmunzeln.

Von da an beschenkte Antoine seinen neuen Freund regelmässig und äusserst grosszügig. Er kaufte Charles sogar medizinische Fachbücher, die nicht ganz billig waren. »Für meinen zukünftigen Hausarzt«, pflegte er zu sagen. Einen solchen würde er brauchen, denn er hatte immer irgendwelche Beschwerden: Nadelstiche im Oberschenkel, Atemnot, zu viel Luft in den Gedärmen, ein Pfeifen im Ohr, diffuse Rückenschmerzen oder ganz einfach Albträume. Charles wusste auf fast alle Fragen eine Antwort. So wurde Antoine immer abhängiger von ihm. Und Charles vertiefte sich dank Antoine in jedes Organ. Deshalb festigte nebst der Musik auch Antoines Hypochondrie die freundschaftlichen Bande zwischen den beiden ungleichen jungen Männern. Bald hatte Charles eine ganze Bibliothek über den menschlichen Körper beisammen. Antoine verlangte noch mehr Geld von seiner Mutter. Er gab es mit beiden Händen aus, als handelte es sich dabei um wertlose Papierschnitzel. In der Schule nützte ihm das viele Geld nichts. Er war ein miserabler Schüler. Ohne Charles’ Hilfe hätte er nicht einmal das erste Jahr überstanden. Er wusste es, und manchmal kränkte ihn das so sehr, dass er das Bedürfnis hatte, Charles mit Boshaftigkeiten zu verletzen. Doch Charles nahm auch das einfach so hin. Er hatte nie gelernt, sich aufzubäumen. Widerstand war nicht Teil seines Repertoires. Er war es gewohnt, im Stillen zu leiden und das Schicksal mit all seinen täglichen Widrigkeiten zu ertragen. Charles konzentrierte sich auf die Schule, er war ein guter Schüler. Doch seine Leistungen spornten Antoine nicht an. Stattdessen gedieh der Neid in dessen Brust wie ein bösartiges Geschwür.

»Du bist nicht für die Medizin geschaffen«, sagte Charles eines Tages, als sie zusammen den Blutkreislauf studierten. »Ich will ganz offen sein, Antoine, du liebst die Menschen zu wenig. Du liebst nur dich selbst, und das ist für einen Arzt zu wenig.«

»Das tut richtig weh«, röchelte Antoine mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Was empfiehlst du mir denn?«

»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Charles, als sie sich am Abend wieder ans Klavier setzten. »Du musst dir überlegen, was du besonders gut kannst. Was kannst du, was andere nicht oder nicht so gut können?«

»Reden, den Leuten die Sätze im Mund verdrehen, spotten. Soll ich Schauspieler werden?« Antoine haute in die Tasten und stampfte auf den Pedalen herum. »Suizid wäre auch eine Lösung. Oder ich suche mir in Paris ein hübsches Bordell und warte dort mein Erbe ab. Meine Mutter schrieb mir kürzlich, mein alter Herr huste Blut. Sie wollte, dass ich mit dem Arzt rede. Soll sie ihn doch selber fragen, wie lange es unsere Geldbörse noch macht!«

»Anwalt«, sagte Charles plötzlich, »du solltest Anwalt werden. Du könntest sowohl Mörder als auch Opfer verteidigen. Mit der gleichen Akribie. Denn dich interessiert nur der Sieg. Nicht die Gerechtigkeit.«

Antoine schmunzelte. »Du hast mich durchschaut, grosser Mann, meine Waffe ist die Sprache, mein Gehirn, mein Gedächtnis. Ich geniesse es, Menschen zur Schnecke zu machen. Am liebsten öffentlich, vor grosser Kulisse. Ich bin geltungssüchtig, ich will ein Grosser werden, ich geb’s zu. Und ich stehe dazu. Und? Ist das etwa peinlich? Wen kümmert das schon?«

»Hast du denn nie das Bedürfnis nach Frieden, nach Ruhe …?«

»Sag jetzt bloss nicht Harmonie. Welch grässliches Wort. Ich liebe den Streit, den Konflikt, die Auseinandersetzung. Die Hitze des Gefechts erweckt mich zu neuem Leben. Das spornt mich an. Sogar mehr als eine nackte Frau. Jedes Wortspiel ist mir lieber als ein guter Freund. Aber sag mal, kann man sich im Bordell tatsächlich so kleine Sauereien holen? Ich meine Pilze und solches Gemüse auf der Eichel?«

»Diese Geschwüre treten drei bis vier Wochen nach dem Bordellbesuch auf. Sie sind schmerzlos.«

»Dann bin ich ja beruhigt«, sagte Antoine und atmete hörbar aus. »Ich werde später wirklich einen privaten Hausarzt brauchen, Charles.«

»Dann schwellen die Lymphknoten an …«

»Oh, das war erst der Anfang? Wo zum Teufel sind denn schon wieder die Lymphknoten?«

»Dann gibt es Rötungen, und eine farblose Flüssigkeit wird ausgeschieden.«

»Aber nicht etwa durch meinen Schwanz? Hör auf, das wird ja richtig eklig.«

»Es folgen Symptome wie bei einer schweren Grippe. Die Haare fallen dir aus. Der Körper wird von schweren Entzündungen ruiniert. Wenn das Gehirn betroffen ist, verkümmern die Sprache und die Denkfähigkeit. Du fällst auf den Stand eines Vierjährigen zurück. Du kannst Blase und Darm nicht mehr kontrollieren. Die Sehnerven sterben ab, und dein Körper wird gelähmt.«