»Sag jetzt bloss noch, dass ich dann keinen mehr hochkriege.«
»Bei deinem Humor ist alles möglich.«
»Schon gut«, winkte Antoine ab, »dann werde ich wohl Anwalt, Charles, und du wirst ein kleiner Landarzt. Vielleicht reicht es nicht ganz zum Landarzt, dann wirst du halt Veterinär und wühlst in den Ärschen von abgemagerten Kühen und stinkst den ganzen Tag nach Scheisse.« Er gab Charles einen Klaps auf die Schulter und lachte amüsiert. Es war kein besonders freundlicher Klaps. Etwas hart und aggressiv. Und seine Augen funkelten dabei gefährlich. Charles ahnte, dass in dieser Brust noch eine andere, dunkle Seele wohnte.
Aufgrund seiner ausgezeichneten Leistungen durfte Charles mit Pater Collin nach Le Havre fahren, um neue Kräuter einzukaufen. Der Pater erzählte ihm unterwegs, wie einst die Wikinger Rouen überfielen, wie die Normandie an England fiel, und er zeigte ihm, als sie über den Marktplatz zum Westtor fuhren, die Stelle, an der Jeanne d’Arc im Mai 1431 auf dem Scheiterhaufen verbrannte.
Im Hafen von Le Havre ankerten Handelsschiffe mit grossen Segelflächen. Damit die Schiffe nicht kippten, brauchten sie einen dicken Rumpf. Es war kaum zu glauben, was alles aus diesen Schiffsbäuchen herauskam: Menschen, wilde Tiere in Käfigen, exotische Hölzer, farbige Stoffe, Porzellan, kostbare Seide, Statuen, Fässer und Holzkisten, aus denen halbverwelkte Pflanzen hingen. Besonders begehrt waren Tee, Kaffee, Gewürze und pflanzliche Arzneistoffe. Diese Handelsschiffe gehörten meist der Französischen Ostindienkompanie. Die Kompanie hatte die rechtliche Form einer Aktiengesellschaft. Jeder konnte Aktien kaufen, Aktionär werden und am Gewinn der Gesellschaft partizipieren. Die Französische Ostindienkompanie war ein sehr bedeutendes Unternehmen. Sie hatte vom König die Rechte für den Seehandel mit Afrika, Arabien, Madagaskar, Südostasien, China und mit der Neuen Welt. Die französische Krone hatte die Handelsgesellschaft mit enormen Privilegien ausgestattet. So hatte sie nicht nur das Monopol auf alle eroberten Gebiete ausserhalb Frankreichs, sondern auch das Recht, eigene Kriegsschiffe und eigene Truppen auszurüsten. Sie hatte ihre eigene Gerichtsbarkeit und schlug ihre eigenen Münzen.
Charles konnte sich kaum sattsehen. Hinter den Handelsschiffen ankerten die begleitenden Kriegsschiffe der Kompanie, die mit Kanonen ausgestattet waren. Denn die Händler hatten sich nicht nur gegen fremdländische Völker zu behaupten, sondern auch gegen die konkurrierenden Holländer und Engländer, die ab und zu auf hoher See, fernab der Zivilisation, die Piratenflagge hissten und im Auftrag ihrer Könige raubten und plünderten.
Charles und Pater Collin flanierten den Quai entlang. Ein Schiff reihte sich an das andere. Vor einem imposanten Handelsschiff blieben sie stehen. Es trug grosse Wappen auf den Segeln, die goldenen Lilien des Königs auf blauem Hintergrund. Darauf die Krone.
»Florebo quocumque ferar« stand auf einem Segel. »Ich blühe überall dort, wo ich gepflanzt werde.« Der Pater lächelte. »Ich denke, dass die Händler eines Tages bedeutender sein werden als die Krone. Denn sie sind auf allen Ozeanen zu Hause.«
»Und die Kirche?«, fragte Charles.
»Die Kirche? Sie wird einen schweren Stand haben. Bibliotheken werden den Glauben ersetzen. Wenn keine Fragen mehr offen sind, wird es auch keinen Gott mehr brauchen. Religion ist nichts anderes als Nichtwissen.«
Schwarzafrikaner wurden in Ketten über den Quai getrieben. Charles hatte noch nie solche Menschen gesehen. Sie lösten in ihm Neugierde und Furcht aus.
»Schau dir die Leute an, die aus den Schiffen kommen«, sagte Pater Collin, »fällt dir etwas auf?«
»Sie haben schlechte Zähne. Einige bluten aus dem Mund, sie haben Geschwüre an den Lippen. Viele hinken und haben einen merkwürdigen Gang.«
»Sie leiden an Skorbut. Wenn sie länger als drei Monate unterwegs sind und kein Obst und kein Gemüse essen, fehlt dem Körper etwas. Die Schleimhäute beginnen zu bluten, und die Zähne fallen aus. Wenn es eines Tages jemandem gelingt, Nahrungsmittel besser zu konservieren, wird das eine Revolution in der Geschichte der Menschheit sein.«
»Das wird aber auch die Kriege verlängern. Mancher Krieg wird durch fehlenden Nachschub an Nahrungsmitteln gestoppt.«
Der Pater lächelte. Er mochte Charles. Er winkte jemandem zu, der an der Reling eines gigantischen Handelsschiffes stand, das mit fünfzig Kanonen bestückt war. Es war der niederländischen Fleute nachempfunden und verfügte über ein enormes Ladevermögen. Diese Art Schiffe waren etwas schwerfällig und hatten im Kampf gegen die Piraten im Indischen Ozean keine Chance. Deshalb wurden sie stets von kleineren, wendigen Kriegsschiffen begleitet. Der Unbekannte an der Reling winkte zurück und bat den Pater hinauf. Er trug einen orangenen, orientalisch anmutenden Umhang aus leichtem Stoff. Charles folgte Pater Collin. Sie zwängten sich an den Lastenträgern vorbei und bestiegen das Schiff.
»Das ist Pater Gerbillon«, sagte Collin, »er besucht im Auftrag des Königs das Königreich Siam. Er ist ein Jesuitenpater aus Paris.«
Die beiden Patres umarmten sich herzlich. Gerbillon war braungebrannt und von heiterem Gemüt. Seine Bewegungen hatten etwas Affektiertes, so wie es am Hof in Versailles zum guten Ton gehörte. In seinem Umhang, der bis zu den Knöcheln reichte, fiel er auf wie ein Paradiesvogel.
»Das ist Charles, mein bester Schüler«, sagte Pater Collin nicht ohne Stolz. Gerbillon musterte den grossgewachsenen Charles anerkennend. Er hatte dabei ein merkwürdiges Lächeln auf den Lippen. Es war nicht einfach der Schalk in seinen Augen, es war mehr. Etwas Konspiratives. Es irritierte Charles. Einem Menschen wie Gerbillon war er noch nie begegnet. Gerbillon war anders.
»Was haben Sie uns mitgebracht?«, fragte Collin.
Gerbillon zeigte zum Bug. Dort standen ein Dutzend Jugendliche, in lange Gewänder gekleidet. Er winkte sie herbei. Sie eilten auf Gerbillon zu, umringten Pater Collin und Charles und legten die Hände vor der Brust aneinander. Dabei senkten sie ehrerbietig den Kopf. »Das sind meine kleinen Freundinnen und Freunde aus dem Königreich Siam«, erklärte Gerbillon. »Sie werden in Paris am Collège Louisle-Grand studieren. Im Gegenzug studieren junge Französinnen und Franzosen in Siam. Der König wünscht dieses Austauschprogramm.«
»Sind die nicht etwas jung?«, fragte Collin.
»Das täuscht. Sie sind alle schon über sechzehn, aber sie sehen aus wie Zwölfjährige.«
Charles musterte die Jugendlichen. Die dunkle Haut und die langen schwarzen Haare faszinierten ihn. Sie hatten feine Gesichter, und ihre Lippen waren aufreizend schön und voll.
»Werden Sie erneut nach Siam reisen?«, fragte Collin.
»Auf jeden Fall«, sagte Gerbillon mit einem Lächeln, »das Wetter ist warm, die siamesische Küche ist ein Traum, und der König von Siam ist ein begeisterter Schüler. Ich habe ihm alles beigebracht über die Astronomie, wie wir sie hier praktizieren, aber er will noch mehr lernen. Er ist begeistert von den Instrumenten, die wir ihm aus Paris mitgebracht haben. Und es gibt eine Menge zu tun. Wir zeichnen erstmals exakte Seekarten. Das wird die Handelswege verkürzen. Und wenn wir dadurch den Holländern und Engländern ein Schnippchen schlagen können, hat sich das Ganze schon gelohnt.«
»Und Gott?«
Gerbillon vollführte ein paar kokette Bewegungen. »Das ist schon schwieriger. Gott hat es schwer gegen Buddha. Es ist zwar ein und dasselbe, aber ihr Buddha ist einfach freundlicher. Ich denke, wenn wir Siam erobern wollen, müssen wir ihnen ihre Religion lassen. So haben es die Römer getan und waren damit erfolgreich. Und Buddha ist nicht so prüde wie unser Gott.« Gerbillon lachte. »Sie kennen keine Scheu. Wenn sie lieben, empfinden sie keine Scham.«
»Wie wollen Sie das so genau wissen?«
»Man hat es mir so zugetragen.« Gerbillons Unschuldsmiene sprach Bände. Wie viele Menschen, die lange in den Kolonien lebten, hatte er die Sitten und Bräuche seines Heimatlandes weitgehend aufgegeben und die fremde Kultur angenommen.