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Arbeiter trugen Käfige aus dem Bauch des Schiffes. Die gefangenen Tiere glichen riesigen Katzen. Ihr Fell war gelb und schwarz gestreift. Als ein Tier zu fauchen begann, sah man in eine furchterregende Schnauze mit riesigen Zähnen, die jedes andere Tier zerreissen konnten.

»Das sind Tiger«, sagte Gerbillon, »angeblich kann man die zähmen, aber ich hab’s nicht versucht. Ich hoffe, sie werden unserem König gefallen. Er wollte etwas Ausgefallenes für seinen Zoo.«

»Verstehen Sie unsere Sprache?«, fragte Charles eines der Mädchen. Sie war die Kleinste von allen, und trotzdem schien sie die anderen anzuführen. Sie hatte ein wunderschönes Gesicht mit feinen Wangenknochen und einem vollen Mund. Ihre Augen waren schwarz wie die Nacht, ihr Blick schien Charles zu durchdringen. Sie strahlte Wärme aus, Zuneigung, aber es war nicht zu übersehen, dass sie zäh war und über viel Energie verfügte. Das Mädchen zeigte auf ihre Brust und sagte: »Lan Na Thai.«

»Das ist unsere kleine Dan-Mali«, sagte Gerbillon nicht ohne Stolz, »sie ist die Gescheiteste von allen. Sie hat ein Gedächtnis wie eine Bibliothek und vergisst nichts. Sie wird unsere Sprache rasch erlernen.«

»Was heisst Lan Na Thai?«, fragte Charles.

»Königreich der Millionen Reisfelder. So nennen sie Siam in ihrer Sprache.«

Charles lächelte und nickte Dan-Mali aufgeregt zu. Er hatte verstanden. Er konnte sich kaum an ihr sattsehen. Ihr leicht vorstehendes Kinn faszinierte ihn. Es hatte etwas Animalisches, Gefährliches, Erotisches.

»Haben Sie uns Zimt mitgebracht?«, fragte Collin und fixierte Charles eindringlich, damit dieser endlich aufhöre, die Siamesin anzustarren.

»Nicht nur.« Gerbillon lächelte vieldeutig. »Ich habe zum ersten Mal Kurkuma mitgebracht. Es ist die Pflanze der Mönche. Sie zermalmen die gelbe Wurzel zu Pulver. Es besiegt die schwarzen Geschwüre, die wie Blumenkohl in den Brüsten der Frauen wuchern. Und es soll auch gegen andere Formen von faulenden Geschwüren helfen. Es wächst wild im Gebirge. Aber nur jene Arten sind wirksam, die in der Nähe von Teakbäumen wachsen. Probiert es aus, und gebt mir im nächsten Frühjahr Bescheid.«

Die Jugendlichen holten Kisten und Körbe und blieben hinter Pater Gerbillon stehen. Er nahm ein Stück Rinde aus einem Korb. »Das ist die Rinde des Lorbeerbaums.« Er wandte sich an Charles. »Sie ist trocken. Du kannst sie zerstampfen, bis sie zu Pulver wird.«

»Es fördert tatsächlich die Verdauung«, sagte Pater Collin, »ich hab’s an mir selber ausprobiert. Man kann sie auch in einer Sauce einkochen. Das gibt dem Essen einen ganz besonderen Geschmack.«

»In Siam umwickeln wir das Fleisch damit, bevor wir es übers Feuer legen. Der Hof ist ganz verrückt danach. Deshalb hat sich der Preis bereits verdreifacht.« Gerbillon lachte.

Charles nickte und drehte verstohlen den Kopf. Er musste noch mal Dan-Mali ansehen. Sie faszinierte ihn wie noch keine junge Frau zuvor, und er erwiderte ihr schüchternes Lächeln. Obwohl sie einer ihm völlig fremden Kultur entstammte, fühlte er sich von ihr magisch angezogen. Er glaubte zu spüren, dass auch sie eine Entwurzelte war, die einsam inmitten von Menschen war und Frieden und Geborgenheit suchte.

Pater Gerbillon wandte sich erneut an Charles, den er ins Herz geschlossen zu haben schien. »Wenn du mit deinem Studium fertig bist, musst du uns unbedingt in Paris besuchen«, sagte er, »ich werde dir alle Kräuter aus dem Königreich Siam zeigen.«

»Aber nicht übertreiben«, scherzte Collin, »sonst will er am Ende nicht mehr Arzt werden, sondern Koch.«

Nein, Charles wollte immer noch Arzt werden. Seiner Mutter zuliebe. Das Gefühl der Ohnmacht an ihrem Sterbebett war immer noch lebendig in ihm, und irgendwie bildete er sich ein, nachträglich etwas Gutes zu tun, wenn er Arzt würde. Dass seine Mutter längst tot war, war ihm bewusst, und auch dass er nichts rückgängig machen konnte. Es war eine völlig unlogische Verknüpfung, die sich in seinem Denken festgesetzt hatte. Aber Charles handelte nicht immer rational. Er war getrieben. Er wurde von Gerüchen heimgesucht, die ihn an seine Mutter erinnerten. Es war zum Beispiel der Geruch, den er geliebt hatte, wenn sie ihn zärtlich an ihre weiche Brust drückte. Es war kein besonderer Duft, aber es war der Duft seiner Mutter.

Das Studium ging Charles nicht schnell genug voran. Sein Arbeitseifer liess nie nach. Er hatte stets Angst, dass irgendetwas dazwischenkäme, dass das Schicksal zuschlagen und alles beenden könnte. Kaum freute er sich über etwas, ergriff ihn diese Angst. Die Angst, etwas Geliebtes zu verlieren. Mit der Zeit ergriff ihn auch die Angst vor der Angst, und er begann guten Nachrichten so sehr zu misstrauen, dass er sich kaum noch darüber freute.

Einmal im Monat musste er mit Antoine Quentin Fouquier de Tinville die Krankenhäuser aufsuchen und nach Leichen fragen. Sie waren billig zu haben und wurden auf einem Schubkarren in die Klosterschule gefahren. Diese Aufgabe oblag stets Charles und Antoine.

»Du hast recht, Charles«, sagte Antoine, als sie den Karren über das holprige Pflaster schoben, »das Medizinstudium ist wahrscheinlich nicht das Richtige für mich. Aber erklär das mal meiner Mutter! Sie hat allen erzählt, dass ich Arzt werde, also bleibt mir nichts anderes übrig, ich will sie ja nicht blamieren. Dabei weiss sie ganz genau, dass ich in praktischen Dingen so ungeschickt bin, dass ich für meine Patienten eine Gefahr wäre. Als Gott mich schuf, hat er sich auf mein Gehirn konzentriert und mir aus Versehen zwei linke Hände gegeben. Ich mache ihm deswegen keinen Vorwurf. Das Gehirn ist den Händen überlegen. Selbst in einem Rollstuhl kannst du noch eine Armee kommandieren. Da wären wir beim anderen Problem. Ich ertrage es nicht, wenn man mir sagt, was ich zu tun habe. Ich könnte nie Soldat sein. General wäre das mindeste.«

»Aber du hörst auf deine Mutter«, sagte Charles in seiner gewohnt emotionslosen Art.

»Wir hören doch alle auf unsere Mütter, und ich ganz besonders. Denn wenn mein alter Herr zu seinem Schöpfer zurückkehrt, erbe ich seine irdischen Güter. Und dann zahlt sich meine Herkunft eben doch noch aus. Weisst du, Charles, du bist zwar ein hervorragender Schüler, aber wahrscheinlich kommst du aus sehr einfachen Verhältnissen.« Er grinste hämisch. »Dein Vater war vielleicht der Erste seiner Sippe … ach, was red ich da, ihr habt bestimmt nicht mal einen Stammbaum … also, er war der Erste, der einen mittelmässigen Beruf erlernte: Arzt. Aber in Paris, da zählen einzig Herkunft und Vermögen. Womit willst du dir später ein Amt kaufen? Schon tragisch, nicht, der beste Schüler von Rouen endet in der Gosse, und ich, ein verwöhnter, fauler Adelsspross …«

Charles hielt den Schubkarren an. Der Arm einer Leiche war unter der Decke hervorgerutscht und baumelte jetzt über die Ladefläche. Antoine packte den Arm und schob ihn wieder unter die Decke. Sie gingen weiter.

»Selbst die Leichen wollen sich vor mir aus dem Staub machen«, sinnierte er nun mit ernstem Gesicht. »Ich hoffe, meine Äusserungen haben dich nicht allzu deprimiert, Charles. Die Wahrheit ist manchmal bitter. Du bist der bessere Schüler, aber ich werde später das bessere Leben haben.«

»Wenn ich Arzt werde«, sagte Charles, »werde ich mit meinem Leben zufrieden sein. Ich brauche kein besseres Leben.«

»Oh, jetzt erstaunst du mich aber, Charles. Man sehnt sich immer nach etwas Besserem. Das unterscheidet uns vom Tier. Wir sind nie satt. Wir sind immer hungrig. Und wenn du einmal genug Geld hast, sehnst du dich nach Ruhm und Anerkennung. Nach Macht. Die Welt soll dir Denkmäler errichten und Plätze nach dir benennen.«

»Ich möchte nicht, dass man mir ein Denkmal errichtet«, murmelte Charles, »wozu auch?«

»Keine Angst, das wird nicht geschehen. Aber eins kann ich dir versprechen: Wenn du eines Tages an meine Tür klopfst, krank und verarmt, dann kriegst du von meinen Dienern eine warme Suppe. Geld werde ich dir keins geben, denn ich werde dir nie verzeihen, dass du der bessere Schüler von uns beiden warst.« Er lachte. »Eigentlich wollte ich dich zu meinem Hausarzt machen, aber ich könnte es nicht ertragen, jeden Tag den Mann zu sehen, der mir hier in Rouen meine Mittelmässigkeit vorgeführt hat.« Dann legte er freundschaftlich den Arm auf Charles’ Schulter. »Du bist mein bester Freund, Charles. Ohne dich würde ich es hier nicht aushalten. Ich bin manchmal etwas böse, aber ich mag dich.« Erneut lachte er los und schaute zwei jungen Frauen nach, die gerade an ihnen vorbeigegangen waren.