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»Oh, die Schwarzhaarige macht mich richtig scharf. Was denkst du, Charles, wen würden die beiden Damen bevorzugen? Den reichen Antoine oder den selbstlosen Samariter Charles?«

»Du kriegst Besuch«, sagte Charles leise.

Antoine erkannte gleich den Ernst in Charles’ Stimme und schaute nach vorn. Sie waren in eine schmale Gasse eingebogen. Am Ende des Weges standen drei junge Männer in ihrem Alter.

»Kennst du die?«, fragte Charles und verlangsamte nun seinen Schritt.

»Nur flüchtig.« Antoine konnte seine Nervosität nicht verbergen. »Ich kenne nur den Kerl in der Mitte. Ich habe seine Schwester als Nutte bezeichnet und ihn als Abschaum der Evolution. Glaubst du, das war ein Fehler?«

»Warum musst du ständig andere Leute beleidigen?«

»Du hilfst mir, Charles, nicht wahr? Du weisst, Gott gab mir zwei linke Hände.«

Nun standen die drei jungen Männer vor dem Karren und versperrten ihnen den Weg. »Wir wollen eine Entschuldigung«, sagte der eine.

»Geht uns aus dem Weg«, sagte Antoine, »oder mein Freund verliert die Geduld.« Er hatte Angst, grosse Angst und schaute hilfesuchend zu Charles.

»Wir werden dich jetzt so verprügeln, dass dich dein Freund auf seinen Schubkarren laden wird.« Die drei stürmten auf Antoine zu. Zwei packten ihn, der Dritte schlug ihn sofort zu Boden. Nun setzte Charles den Schubkarren ab und eilte Antoine zu Hilfe. Er warf den Ersten zu Boden, schlug dem Zweiten die Faust ins Gesicht und packte den Dritten mit solcher Wucht am Nacken, dass dieser wimmernd in die Knie sank. Als die anderen beiden davonrannten, liess Charles sein Opfer los. Antoine kniete noch am Boden und starrte auf das Blut an seiner Hand.

»Es ist nur die Nase«, sagte Charles.

»Nur die Nase!«, schrie Antoine. »Wieso hast du so lange gewartet? Die haben mir die Nase gebrochen.«

»Nein«, sagte Charles ruhig, »deine Nase ist nicht gebrochen. Sie blutet nur ein bisschen.«

»Ein bisschen! Du machst dich wohl lustig über mich? Vielleicht verblute ich hier!« Antoine erhob sich und trottete, ohne auf Charles zu warten, die Gasse hinunter. Von da an war Antoine ein anderer. Er schämte sich, dass Charles Zeuge seiner Angst und Hilflosigkeit geworden war. Dafür begann er ihn zu hassen.

Die Leichen wurden im Saal über der Turnhalle seziert. Während sich einige Schüler während der Vorführung entsetzt abwandten, sah Charles nichts Unnatürliches in diesen leblosen Körpern. Er hatte nur Augen für die Struktur der bläulich aufgedunsenen Körper. Er inspizierte sie wie fremdartige Maschinen, bewegte die Glieder, als seien es bloss Türscharniere. Für Antoine gab es jedoch nur den Penis oder die Brüste der Leichen. Er mokierte sich über diese Körperteile und versuchte seine Mitschüler zu unterhalten. Wenn Charles ihn ignorierte, sagte er mit grossem Bedauern in der Stimme, dass Charles eben studieren müsse, da sein Vater Schauspieler sei und noch zehn Jahre Bastille vor sich habe.

Charles konzentrierte sich auf sein Studium. Mit jedem Monat wuchs in ihm die Gewissheit, dass es möglich sein musste, einen Körper zu begreifen. Und wenn man ihn begriff, wenn man ihn »lesen« konnte, konnte man ihn auch heilen. Dieser Gedanke beherrschte ihn Tag und Nacht. Aber es gab da noch einen anderen Gedanken. Er wollte die junge Siamesin Dan-Mali wiedersehen. Er wusste, dass sie erst sechzehn war. Aber sie würde älter werden. Und in einigen Jahren würde er sein Medizinstudium abgeschlossen haben und nach Paris zurückkehren. Sie war ständig in seinen Gedanken. Sie hatte sich förmlich in seiner imaginären Welt eingenistet. Er kannte die geheimnisvolle Siamesin nicht, er hatte noch nie mit ihr ein richtiges Gespräch geführt, aber ein einziger Blick hatte genügt, ihm mitzuteilen, dass sie auf ihn warten würde.

Eines Morgens erhielten sie den Körper eines Landstreichers, der vor der Schule tot zusammengebrochen war. Die Patres entschieden, den Leichnam in der Halle aufzubahren, damit die Studenten den körperlichen Prozess unmittelbar nach Eintritt des Todes beobachten konnten. Anfangs schien der Landstreicher zu schlafen, doch schon bald fielen seine Wangen ein, und es bildete sich ein tiefliegendes Dreieck um die Nase herum. Das Blut hatte aufgehört zu zirkulieren und setzte sich. Dort, wo die Leiche auflag, bildeten sich dunkle blaue Flecken.

»Ist das Charles’ Vater«, fragte Antoine mit gespieltem Entsetzen, »der Chevalier Sanson de Longval?« Er schaute zu Charles. »Ich dachte, dein Vater sei Arzt.«

»Welcher Teufel hat dich denn jetzt wieder geritten?«, fragte ein Mitschüler.

»Was ist daran falsch? Ihr wisst alles über meine Herkunft …«

»Wir hören es ja oft genug«, brummte Charles.

»Ja, weil ich nichts zu verbergen habe. Aber Charles, dein Schweigen ist der Boden für die wildesten Spekulationen. Niemand kennt einen Arzt, der … wie heisst dein alter Herr schon wieder?«

»Soll ich denn den ganzen Tag mit meinem Stammbaum herumlaufen?«

»Dürfte schwierig werden. Sehr schwierig. Denn du hast keinen.«

Es war nicht Charles’ Tag. Entnervt behauptete er, man könne den Stammbaum seiner Familie bis ins fünfzehnte Jahrhundert zurückverfolgen. »Einer meiner Ahnen war der Kartograph Nicolas Sanson d’Abbeville. Er hat mehrere Atlanten publiziert und König Louis XIV in Geographie unterrichtet.«

»Sagt mir nichts«, unterbrach ihn Antoine mürrisch.

»Natürlich nicht«, spottete nun Charles seinerseits, »dazu fehlt dir jegliche Bildung.«

Die anderen Schüler lachten.

»Verstehe«, heuchelte Antoine, »wenn man weder Geld hat noch adliger Herkunft ist, braucht man natürlich Bildung. Wenn ich mit meinen Freunden auf die Jagd gehe, will keiner etwas von Geographie hören. Wir reden über unsere Ländereien, unsere Mätressen, unsere Intrigen und all das Zeug, das wir täglich genussvoll in uns reinstopfen. Aber wenn man nichts hat, malt man Landkarten und langweilt seine Umgebung mit nutzlosem Wissen.«

»Neulich hast du den Mund nicht so voll genommen«, sagte Charles, »irgendwann wird einer kommen und dir dein blödes Maul stopfen.«

»Habt ihr es bemerkt? Wir haben einen wunden Punkt getroffen: seine Herkunft. Wer weiss, vielleicht stammt er von den Affen ab, die in Höhlen hausen und rohes Bärenfleisch verzehren. Am Wochenende ist Besuchstag. Ich bin gespannt, ob sein Vater kommt. Kommt die Schwester mit den grossen Titten auch?«

Jean-Baptiste Sanson kam. Es war der Tag, an dem die Eltern der Schüler anreisten, um dem Unterricht ein paar Stunden zu folgen und anschliessend mit den Patres über die Leistungen ihrer Söhne zu sprechen. Zuerst versammelten sich die Eltern im Innenhof und begrüssten ihre Kinder. Zwei Nonnen aus dem benachbarten Kloster servierten Brot und Apfelmost. Charles’ Vater war mit Grossmutter Dubut angereist. Er fühlte sich sichtlich unwohl inmitten der anderen Eltern. Er konnte seine niedrige Herkunft kaum verbergen. Charles sah, wie Antoine seinen alten Vater begrüsste. Dieser schien sehr mürrisch, übelgelaunt. Er raunte Antoine etwas zu. Irgendetwas schien ihm zu missfallen. Antoines Mutter hingegen schien eher entspannt, amüsiert. Sie drückte ihren Sohn mehrfach an die Brust und küsste ihn auf die Stirn. Antoine mochte das nicht besonders. Er löste sich von ihr und ging dann auf Charles zu, der sich mit seinem Vater unterhielt.