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An der Universität Leiden verkroch man sich nicht hinter Lehrbüchern und büffelte Theoretisches, hier wurde man in die Praxis versetzt. Doziert wurde am lebenden Objekt. Das Arbeitspensum war enorm, und die jungen Studenten hatten der Reihe nach Hand anzulegen. Jeder hatte hier sein theoretisches Wissen unter fachkundiger Beobachtung anzuwenden. Es wurde operiert und bandagiert. Die Kranken hatten zu ertragen, dass an ihnen herumgewerkelt wurde wie an Puppen. Einige der Studenten hielten sich meist vornehm zurück, andere wurden kreidebleich und setzten sich auf eins der überladenen Betten, als brauchten sie demnächst selbst ärztlichen Beistand. Charles blieb stets in der ersten Reihe. Er konnte Blut sehen. Es irritierte ihn nicht. Es ekelte ihn nie. Es war einfach eine Flüssigkeit im menschlichen Körper, die ab und zu auslief wie Wein bei einem angestochenen Fass. Auch beim Anblick unnatürlich verrenkter Glieder wurde ihm nicht schlecht. Er nahm sie in die Hand wie ein Handwerker, der ein Scharnier zu überprüfen hatte. Er begriff auch schnell die Gesetzmässigkeiten und saugte alles, was er sah oder hörte, auf wie ein Schwamm. Die Universität Leiden war nach seinem Geschmack. Er war stolz, hier zu sein. Er war Teil dieser neuen, experimentellen Medizin, die wie die mutigen Seefahrer neue Kontinente erschliessen wollte. Pater Gerbillon hatte recht, dachte Charles, Pech und Glück lagen manchmal nahe beisammen, und ein Schicksalsschlag leitete eine unerwartete Glückssträhne ein.

Doch manchmal ist das Glück von kurzer Dauer, und es folgt erneut ein Rückschlag. Dieser kam in Form eines Briefes von Grossmutter Dubut. Charles erkannte gleich ihre Schrift, die an scharfe Bajonette und Harpunen erinnerte. Der Inhalt des Briefes war eine Kriegserklärung. Sie schrieb, Jean-Baptiste habe einen Schlaganfall erlitten und sei halbseitig gelähmt. Charles müsse sofort nach Paris zurückkommen. Er solle gleich nach Erhalt des Briefes seinen Koffer packen und in die nächste Kutsche steigen.

Charles packte wohl oder übel seine Sachen zusammen und begab sich zur nächsten Poststation. Er verabschiedete sich von niemandem. Bevor er ging, stahl er ein Dutzend leerer Schulhefte. Er tat es spontan. Es passte eigentlich nicht zu seinem Charakter. Er empfand ohnmächtige Wut und stahl, um etwas zurückzuerhalten von dem, was man im Begriff war ihm wegzunehmen. Und man war im Begriff, ihm alles wegzunehmen, was ihm etwas bedeutete. Zum Trost nahm er ein paar lausige leere Hefte mit. In diese wollte er fortan alles niederschreiben, was sich ereignen würde, bis er endlich sein Ziel erreicht hatte, Arzt zu werden. Er stahl diese Hefte, weil er sich sehr wohl bewusst war, dass es in Paris niemanden gab, dem er sein Leid hätte klagen können. Ausser diesen leeren Heften. Denn er würde weiterhin ein Fremder unter den Menschen sein. Er wolle über sich schreiben, beschloss er, denn die wenigsten Menschen ahnen, wer sie wirklich sind. Es sind die Prüfungen des Schicksals, die einem plötzlich und oft schmerzhaft vor Augen führen, wer man wirklich ist und wozu man fähig ist. Die meisten Menschen behaupten von sich, sie könnten keiner Fliege etwas zuleide tun, und plötzlich überraschen sie sich dabei, wie sie einem anderen Menschen bei lebendigem Leibe mit glühenden Zangen das Fleisch von den Knochen reissen. Das sind Dinge, die man anderen Menschen nicht leichtfertig anvertraut. Es sind Dinge, die man schweigend in ein Heft niederschreibt. Wer keine Freunde hat, sollte wenigstens ein leeres Heft haben.

5

Während die Postkutsche über die staubige Landstrasse holperte, spürte Charles erneut diese unendliche Traurigkeit in sich hochsteigen. Das war die Krankheit der Sansons, ein Teil der Erbsünde. Zuerst wurden sie traurig und schwermütig, später erlitten sie Hirnschläge und wurden gelähmt. Und blieben am Leben, um zu leiden.

Von weitem sah Charles die graue Dunstglocke, die über Paris hing. Dutzende von Kirchtürmen ragten aus der düsteren Dreckwolke heraus, die Hunderttausende von Herdöfen in den Himmel pufften. Doch die monumentalen gotischen Türme der Kathedrale Notre-Dame überragten die weit über hundert Kirchtürme wie ein Papst seine Kardinäle.

Je mehr er sich der Stadt näherte, desto gewaltiger wurde diese Beklommenheit, die Charles die Kehle zuschnürte. Er hasste Paris. Leiden hatte er geliebt. Leiden war die Stadt der Kultur und der Wissenschaft. Rembrandt hatte dort gelebt, aber auch Antoni van Leeuwenhoek, der Entdecker des Bakteriums. Die offene, unkomplizierte Art der Holländer war ihm von Beginn weg sympathischer gewesen als die etwas rüde und eingebildete Art der Pariser. Er hasste Paris aber auch, weil es die Stadt seiner Grossmutter, Marthe Dubut, war, die wie diese grausamen, in Stein gehauenen Dämonen an der Balustrade von Notre-Dame darüber wachte, dass der Fluch, der auf der Sanson-Dynastie lastete, von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Ihr Ehrgeiz sollte der Ehrgeiz aller Sanson-Kinder sein. Sie hatte die Hoheit über die Gedanken übernommen. Sie allein wusste, was richtig oder falsch war, obwohl sie noch nie ein Buch gelesen oder sich eine abweichende Meinung bis zuletzt angehört hatte. Das ist die Tragik der Menschen, die stets alles zu wissen glauben, dachte Charles. Sie ahnen nicht, wie wenig sie wissen.

Eines Märzmorgens im Jahre 1757 passierte die Postkutsche die Zollmauer der Stadt Paris und hielt im Handelshof dahinter an, inmitten von Hunderten von Tagelöhnern, Kriegsinvaliden, verarmten Bauern und abgemagerten Landmädchen. Sie suchten nicht ihr Glück in Paris, denn sie wussten, dass Leute wie sie kein Glück haben. Sie suchten dem Elend auf dem Land zu entkommen. Sie alle wurden von den sichtlich übermüdeten Soldaten rüde und lautstark zurechtgewiesen und wie Vieh sortiert und vorangetrieben. In diesen Zollhöfen kreuzten sich Kutschen aus allen Teilen Europas, und man tauschte Nachrichten und Gerüchte aus. An diesem Tag sprachen alle von Robert-François Damiens, der angeblich den König, Louis XV, mit einem Messer verletzt hatte. Eine für alle unfassbare Tat. Wie konnte es jemand wagen, königliches Blut zu vergiessen? Stand der König Gott nicht am nächsten?

Wer nach Paris wollte, musste eins der vierundfünfzig Zolltore passieren und sich von den Soldaten peinlich genau befragen und durchsuchen lassen. Zahlreiche Händler warteten vor ihren Kutschen, Karren und Fuhrwerken ungeduldig auf die Abfertigung ihrer Waren durch die Gehilfen der Steuerpächter. Diese hatten dem König das Amt abgekauft und setzten nun nach Gutdünken die Einfuhrsteuern fest. Die Steuerpächter erhöhten die Abgaben ohne Scham und trieben dadurch die Nahrungsmittelpreise derart in die Höhe, dass ein Tagelöhner bereits die Hälfte seines Lohnes opfern musste, um einen einzigen Laib Brot zu erwerben. Für die Armen bedeutete eine Verdoppelung der Nahrungsmittelpreise das Ende, für einen Adligen, der eh keine Steuern bezahlte, spielte es keine Rolle. Er hatte immer genug.

Es mochte Leute geben, die die grösste Stadt Europas schön fanden, dachte Charles. Doch wenn man kein Geld hatte und hungerte, war jede Stadt hässlich.

Nach fast einer Stunde Wartezeit konnten Charles und die übrigen Fahrgäste die Fahrt über die Champs-Elysées fortsetzen. Die Allee hatte sich nun zur Avenue der vermögenden Adligen gemausert, die sich herrschaftliche Stadthäuser mit pittoresken Parkanlagen errichten liessen. Die Postkutsche hielt beim Tuilerienpalast, dem königlichen Stadtschloss. Von hier aus war es noch ein gutes Stück zu Fuss bis in die Rue d’Enfer.