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»Wo liegt das Tier?«, fragte dieser mit leiser, rauer Stimme.

»Gehen Sie in Richtung Wald, dann werden Sie es sehen.«

Der Mann nickte. »Ich kümmere mich um dein Pferd. Aber der Kadaver gehört mir. Lauf den Weg zurück. Du hast das kleine Gehöft gesehen? Es ist rot gestrichen. Dahinter findest du eine Kapelle. Dort findest du mich. Du kannst in meiner Scheune übernachten, Chevalier.«

Der Leutnant schaute den Mann irritiert an.

»Geh schon voraus, ich werde den Wein trinken und mich nachher um dein Pferd kümmern.«

»Können Sie es nicht sofort erledigen?«

Der Mann schaute nun zu ihm hoch. Sein Blick war stechend, seine Augen erloschen. Er hatte ein Gesicht wie ein Amboss, hart, kantig, unnachgiebig, als könnte man reinschlagen, ohne dass sich das Geringste in diesem Gesicht bewegte. Der Leutnant ging mit der Weinkaraffe wieder zum Tresen zurück und sagte zum Wirt: »Ich will mich waschen.« Er zeigte seine schmutzigen Hände. Erst jetzt sah er das Blut an der linken Hand.

»Hinten im Hof findest du einen Trog.« Der Wirt wies mit dem Kopf zur Tür hinter dem Tresen. Draussen lagen Bretter auf dem matschigen Boden. Der Leutnant wusch sich Hände und Gesicht und reinigte notdürftig seine Uniform. Er wusste nicht, woher das Blut kam.

Als er in den Gasthof zurückkehrte, war der Hüne nicht mehr da.

»Dann werde ich jetzt gehen und in diesem roten Gehöft übernachten.«

Die Männer am langen Tisch lachten. Einer posaunte: »Wir nennen es das verwunschene Gehöft.« Alle prusteten.

»Na ja«, brummte der Wirt, »da ist halt keiner gerne zu Gast.« Erneutes Gelächter. Einer ergänzte: »Es ist sehr, sehr ruhig dort, besonders in der Scheune.« Nun grölten die Gesellen und donnerten mit den Fäusten auf die Tischplatte. Der Wirt verzog keine Miene.

Jean-Baptiste Sanson trat ins Freie hinaus und zog den Kragen seines Mantels hoch. Entschlossen marschierte er in der Dunkelheit zurück. Es schüttete noch immer. Unterwegs sah er sein Pferd. Es war tot. Es lag in einer Blutlache, die sich stets erneuerte und immerzu vom Regen aufgelöst wurde. Jetzt kam ihm die Satteltasche in den Sinn. Er suchte eine Weile, doch in der Dunkelheit konnte er sie nicht finden.

Nach einer Viertelstunde erreichte er das verwunschene Gehöft. Er sah, dass im Innern ein Licht flackerte. Das Haus war tatsächlich rot gestrichen. Es glänzte wie frisches Blut im Regen. Er ging daran vorbei und fand hinter einer Scheune eine kleine Kapelle. Der Eingang war von einer Laterne erleuchtet. Sie schepperte im Wind. Er stieg die kleine Steintreppe hinunter. Vorsichtig setzte er einen Fuss nach dem anderen auf die schlüpfrigen Stufen. Er blieb eine Weile im Eingang stehen und schaute zum kleinen Marienaltar, auf dem Kerzen flackerten. Er spürte, dass er nicht allein war. Dann sah er den Schatten. Langsam schritt er über die knarrenden Holzdielen und kniete neben dem Mann nieder, den er zuvor im Wirtshaus angesprochen hatte. Er stützte die Ellbogen auf der Gebetsbank ab und faltete die Hände. Er versuchte zu beten. Aber kein Gebet wollte ihm einfallen. Die Jahre hatten ihn ermüdet. Vielleicht hatten seine Gebete auch Gott ermüdet. Der Hüne drehte sich nach ihm um und schaute ihn an. Das Gebet in der Kapelle schien ihn verändert zu haben. Er wirkte nun sanft und ruhig. Vielleicht war es auch der Wein. Beten oder saufen, beides hat fast die gleiche Wirkung, dachte Sanson.

»Haben Sie meine Satteltasche gefunden?«, fragte er und fixierte den Mann mit stechendem Blick, als wollte er ihm drohen, ihn ja nicht anzulügen.

»Chevalier, deine Satteltasche liegt drüben in der Scheune. Ich habe sie geöffnet. Schliesslich will ich wissen, wer in meiner Scheune übernachtet. Aber in der Satteltasche war keine Depesche für Paris. Ich fürchte, du reitest in eigener Sache. Ich sehe die Not, die dich zerreisst, in deinen Augen. Das Unglück ist dir auf den Fersen. Vielleicht ist es ein Fluch. Manche Menschen sind verflucht. Sie verbringen ihr Leben damit, diesem Fluch zu entkommen. Aber der Fluch folgt ihnen wie ein Schatten. Sie verlieren den Segen Gottes. Gott verfluchte die Schlange, die Eva verführte, er verfluchte Kain, der seinen Bruder ermordete, und er verfluchte die Erde und die Menschen.«

»Hören Sie auf mit dem Unsinn, ich glaube nicht an Flüche!«

»Wieso reitest du dann wie ein Verrückter durch die Nacht? Bei diesem Unwetter. Wenn du an Gott glaubst, glaubst du auch an den Teufel, und wenn du an Gott und den Teufel glaubst, glaubst du auch an Flüche. Wovor fliehst du?«

Jean-Baptiste Sanson schwieg.

»Manch einer erkennt sein Schicksal, aber er kann ihm dennoch nicht entrinnen. Das ist der Fluch.«

Jean-Baptiste fasste sich an die rechte Seite. Als er die Hand vor die Augen führte, sah er, dass sie voller Blut war.

»Komm in die Scheune«, sagte der Hüne, »wir müssen die Wunde säubern. Sonst wirst du Paris nie sehen.«

Er beleuchtete den Weg mit einer Laterne. Die Pferde in den Boxen wurden unruhig. Einige erhoben sich und hielten den Kopf in die Höhe. Sie rochen den fremden Duft und das Blut. Hinter der letzten Box legte der Hüne frisches Stroh aus. Er warf eine braune Pferdedecke darüber und forderte Jean-Baptiste auf, seinen Oberkörper frei zu machen. »Ich hole sauberes Wasser«, sagte er und stellte die Laterne auf den Boden.

Jean-Baptiste legte sich hin und wartete. Nur das Scharren der Hufe war zu hören. Nach einer Weile kam der Mann zurück. Er hatte frische Tücher bei sich. Ihm folgte eine junge Magd mit einem Mörser in der Hand. Sie kniete nieder und zerstampfte einige Kräuter. »Das ist Symphyti radix«, erklärte der Mann, »es lindert Entzündungen und verhindert die Eiterbildung.«

»Sind Sie Arzt?«, fragte Jean-Baptiste.

Der Hüne schwieg und schien sich auf die Säuberung der Wunde zu konzentrieren.

»Ja, er ist Arzt«, sagte die junge Frau nach einer Weile, »er ist ein guter Arzt.« Sie legte erneut Kräuter in den Mörser und zerstampfte sie mit geübter Hand. Dann mischte sie die Paste mit Wasser und gab die Mixtur Jean-Baptiste zu trinken. Es schmeckte fürchterlich, aber er liess es geschehen.

»Dieses Kraut wird dir helfen«, flüsterte der Hüne, »Rauwolfia serpentina nimmt dir die Furcht. Sie beruhigt deinen Körper und deine Sinne. Du wirst keinen Schmerz mehr verspüren und schlafen.«

»Ich habe keine Furcht, ich habe in der Neuen Welt gekämpft. Ich habe viel gesehen.«

Der Hüne schien nicht beeindruckt. »Wenn du morgen aufwachst und dich in der Scheune umsiehst, wirst du vielleicht Furcht empfinden. Noch hast du nicht alles gesehen, was das Schicksal dir bescheren wird.«

Jean-Baptiste wollte sich aufbäumen, aufstehen, vielleicht sollte er besser diesen Ort verlassen, dachte er, doch die Kraft war aus seinem Körper gewichen, und er blieb regungslos liegen. Seine Gedanken verloren sich in einem finsteren Gefühl. Er spürte noch die aufkommende Angst, dann schlief er ein.

Draussen wurde es allmählich Tag. Ein neuer Tag. Die ersten Sonnenstrahlen schienen durch die grosse Öffnung im Dachboden. Jean-Baptiste Sanson war aufgewacht. Er erhob sich langsam und musterte seine Umgebung. Er hatte neben der letzten Pferdebox geschlafen. Es gab insgesamt vier Boxen. Darin standen Pferde und warteten ungeduldig, dass man sie auf die Weide liess. Neugierig und ungeduldig stiessen sie ihre Köpfe gegen die Boxentüren. Er musterte sie, er mochte Pferde. Aber als Kavalleriepferde hätten sie kaum getaugt. Sie waren ausgemustert und dienten wohl nur noch zum Ziehen des Fuhrwerks, das im Hof stand. Er schaute sich in der Scheune um. Sie war sehr geräumig. An einer Holzwand hing Pferdegeschirr. An Haken waren eiserne Gegenstände aufgehängt: Feuerzangen, Fuss- und Handfesseln, Brechstangen, am Boden Weidenkörbe voller Lederriemen, ein Rost, mittelgrosse Holzfässer, in denen Fette, Salben, Puder, Kohle, Schmiere, Seife, Kleie, Sand und Sägespäne aufbewahrt wurden, und ein riesengrosses Rad. In der Ecke stand ein Tisch, unter dessen Decke etwas lag. Er zog an einem Zipfel der Decke. Bläulich gefärbte Finger kamen zum Vorschein. Er riss das Tuch weg und sah einen Arm, Unter- und Oberarm bis zum Schultergelenk. Der Ellbogen war gehäutet worden, so dass man die freigelegten Knochen, Sehnen und Gelenke sehen konnte.