Charles wollte nicht zurück. Alles in seinem Innern sträubte sich. Er hätte schreien können, aber er blieb stumm. Ratlos stand er nun vor dem Schloss und überlegte, wie er vorzugehen habe. Einige Soldaten verscheuchten eine Ansammlung von Tagelöhnern und gaben Charles ein Zeichen, ebenfalls zu verschwinden. Er spazierte zur Seine und trödelte dann dem Ufer entlang Richtung Bastille. Er konnte es wenden, wie er wollte: Er hatte zu seiner Familie zurückzukehren. Auf sich allein gestellt, hätte er gar nicht das Geld gehabt, sein Medizinstudium in Leiden fortzuführen. Ohne Familie war er nichts. Wie ein Fisch ohne Wasser. Wie ein Wolf ohne Rudel. Die Blutsbande waren das Einzige, was Bestand hatte, was Sicherheit bot. Und wer die Autorität des Leitwolfes nicht respektierte, zog sich den Zorn des ganzen Rudels zu. Wütend und widerwillig entschloss sich Charles, den Tatsachen ins Auge zu blicken und in die Rue d’Enfer zurückzukehren. Wie von unsichtbarer Hand getrieben, schritt er vorwärts, und er fragte sich, ob es überhaupt einen freien Willen gab oder ob er lediglich getrieben wurde von Kräften, die er nicht verstand, und Pläne erfüllte, die ihm nicht bekannt waren. Charles verlor sich allmählich in den verwinkelten Gassen. Das Pflaster war so stark mit eingetrocknetem Schlamm und Dreck überzogen, dass man an schattigen Orten bis zu den Knöcheln darin versank. Streunende Hunde und Katzen stritten sich um die blutigen Abfälle der Schlachthöfe, die man einfach auf die Strasse hinausschmiss. Händler trieben ihre störrischen Tiere mit Hieben in Richtung Les Halles, während Dungsammler die mit Stroh und Abfällen vermischten Kothaufen einsammelten und auf ihre Esel luden. Dafür brauchten sie eine Bewilligung, die sie in den Zollhöfen einzulösen hatten. Paris verkaufte selbst seine Scheisse. Paris hatte sich verändert. Paris war gereizt, müde und ohne Hoffnung. Zehntausende von Menschen waren in den engen Gassen unterwegs und kämpften sich durch die verzweifelten Gestalten, die irgendwo Arbeit für den Tag suchten, um ein Stück Brot zu kaufen. Keiner hatte Erbarmen mit dem anderen. Das eigene Schicksal war schwer genug. Ohne Mitgefühl trat man auf die verkrüppelten Beine der Bettler am Strassenrand. Ungerührt hetzte man an Kirchenstufen vorbei, auf denen ausgesetzte Neugeborene lagen, die schrien, hilflos mit den Armen ruderten und von Strassenkötern, die keine Scheu mehr kannten, beschnuppert und geleckt wurden. An den Wänden hingen Plakate, die Louis XV und seine Mätresse, Madame de Pompadour, verspotteten.
Der Königsattentäter Robert-François Damiens war das beherrschende Thema auf allen Strassen und Plätzen. Die Menschen sagten, er habe den König dafür bestrafen wollen, dass das Volk Hunger leide. Und sie stellten die Frage, ob es möglich sei, König eines hungernden Volkes zu sein, ohne es zu verachten. Es wurde erzählt, Damiens habe sich tagelang in den Gärten von Versailles versteckt. Als die Nacht hereinbrach, sei er unter das Gewölbe einer Treppe gekrochen und habe auf die Ankunft des Königs gewartet. Als Louis XV mit seiner Entourage die Treppe hinunterstieg, sei er aus seinem Versteck hervorgesprungen, habe sich zwischen den Musketieren hindurchgeschlängelt und den König mit seinem Dolch leicht verletzt. Einige behaupten, Robert-François Damiens habe geschrien: »Für die Freiheit!«, andere behaupteten, er habe gebrüllt: »Im Namen des Volkes!«, aber keiner wusste es so genau, denn keiner von denen, die das erzählten, war dabei gewesen. Seitdem waren Wochen vergangen, und Robert-François Damiens wurde in einem Pariser Verlies täglich befragt und der Folter unterworfen.
Jean-Baptiste Sanson sass regungslos in einem Fauteuil neben dem Ofen und starrte seinen Sohn ungläubig an. Er war seit einigen Wochen halbseitig gelähmt. Charles hatte es gewagt, seinem Vater nein zu sagen. Grossmutter Dubut stand majestätisch hinter ihrem gelähmten Sohn und fixierte ihren Enkel mit stechendem Blick. Sie erwartete mit sichtbarer Ungeduld, dass er widerrief. Aber er schwieg. Charles’ Lieblingsschwester Dominique sass auf der Ofenbank und hielt den Blick gesenkt, wie sie es immer tat, wenn Ärger in der Luft lag. Seine anderen Geschwister musterten ihn mit gemischten Gefühlen. Einige sassen auf den dicken Holzdielen und lehnten sich gegen die warmen braunen Ofenkacheln. Die tiefhängende Holzdecke wurde von mächtigen Balken getragen. Daran hingen feuchte Wäschestücke zum Trocknen. Charles’ drei Schwestern freuten sich, dass ihr ältester Bruder zurückgekehrt war, doch seine vier Brüder nahmen es ihm übel, dass er den Unmut des Vaters und der Grossmutter auf sich gezogen hatte.
»Das wäre ein schwerer Verrat«, sagte Grossmutter Dubut nach einer Weile. Charles schwieg immer noch. »Ist es denn nicht genug«, fuhr sie fort, »dass wir von der Gesellschaft geächtet und gehasst werden? Muss sich jetzt noch unser eigen Blut von uns abwenden?«
Charles wagte kaum noch, seinem Vater in die Augen zu blicken, der in seinem abgewetzten Polstersessel ein jämmerliches Bild abgab. Er wirkte völlig hilflos. Charles liess seinen Blick über die Jagdmotive auf dem braunen Stoffüberzug des Fauteuils schweifen. Als kleiner Junge hatte er die Hirsche gezählt, die Hunde und die berittenen Jäger. Dem Mann mit dem Jagdhorn fehlte der Kopf. Dort klaffte ein Loch. »Habe ich denn nicht genügend Brüder?«, hörte sich Charles fragen. Er fühlte, dass seine Stimme versagte. Er schämte sich. Aber wenn er jetzt klein beigab, würde er sein Leben lang dafür büssen müssen. Er musste standhaft bleiben. Zwei seiner Brüder reckten mit Stolz den Kopf, denn sie hätten alles gegeben, um das Schwert der Gerechtigkeit führen zu dürfen. Doch sie waren zu jung, um zu verstehen, was das Amt wirklich bedeutete. Sie hatten noch nie gesehen, wie ein Kopf vom Rumpf getrennt wurde und das Blut in einer Fontäne herausspritzte.
»Du bist der Älteste«, sagte Grossmutter Dubut knapp, »und im Übrigen gibt es in Frankreich genügend Städte für deine Brüder. Sie werden die Töchter von Henkern heiraten und wiederum Henker zeugen. Sie haben gar keine andere Wahl.«
»O doch«, widersprach Charles, »Tante Brigitte heiratete einen Musiker.«
»Tante Brigitte«, sagte Grossmutter Dubut mit Bitterkeit in der Stimme, »du weisst, was aus ihren Söhnen geworden ist? Sie wurden beide Henker. Das ist das Erbe der Sansons. Es ist kein Fluch, Charles, es ist einfach die Bestimmung.«
»Aber ich liebe die Musik mehr als das Aufklappen der Falltür unter dem Galgen. Ich will Arzt werden und abends Klavier spielen. So stelle ich mir mein Leben vor.«
»Was haben diese Holländer in Leiden bloss aus dir gemacht? Du entwirfst dein Leben? Was sind das für neue Ideen? Was bist du doch für ein unverschämter Bengel geworden! Du willst selber über dein Schicksal entscheiden? Gott entscheidet über dein Schicksal und entwirft dein Leben, und du hast dich zu fügen. Die Pflichterfüllung bestimmt deinen Weg. Und es gibt keine grössere Pflicht als die, der Familie zu gehorchen und zu dienen.«
»Ich will nicht«, sagte Charles, »ich kann nicht.«
Die Blicke der Familienmitglieder lasteten so schwer und vorwurfsvoll auf ihm, dass seine Knie bebten. Er spürte nicht nur den Druck seiner Grossmutter und all seiner Geschwister, er spürte den Druck all seiner Onkel und Tanten, die in Orléans, Tours, Dijon, Nantes und Cherbourg wohnten und regelmässig zu Weihnachten und Ostern zu den grossen Familientreffen nach Paris kamen. Er spürte den Druck all seiner Cousinen und Cousins, die das Gesetz der Familie nie in Frage stellten. Dieses Gesetz des bedingungslosen familiären Gehorsams war stärker als die Macht der Kirche oder gar der Krone. Denn es war die Familie, die ihre Mitglieder beschützte, es waren nicht die Musketiere des Königs.
»Tritt näher zu mir«, sagte Jean-Baptiste mit ernster Stimme und versuchte krampfhaft, beide Arme zu heben, um seinen Sohn zu umarmen. Doch es gelang ihm nicht. Dominique wollte ihm mit dem Taschentuch, das sie stets bei sich trug, den Speichel aus dem rechten Mundwinkel wischen, doch Grossmutter Dubut kam ihr zuvor und fuhr dem Gelähmten mit einer groben Handbewegung über den Mund. Dann streifte sie den Geifer an seinem Oberarm ab und liess ihre Hand dort ruhen, als wollte sie damit demonstrieren, dass dieser Mensch ihr allein gehörte.