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In den frühen Morgenstunden des folgenden Tages fanden sich Grossmutter Dubut und Charles vor den gusseisernen Toren der Pariser Polizeimagistratur ein und warteten auf Einlass. Gegen neun Uhr liess der Generalprokurator sie von einem älteren Mann in blauer Livree hereinbitten. Sie stiegen die breiten Steintreppen zum zweiten Stockwerk hinauf und betraten dort das Arbeitszimmer des Generalprokurators. Er war ein freundlicher älterer Herr mit breiten, borstigen Koteletten, die angegraut waren. Er trug einen schwarzen Anzug mit breiten Schulterklappen und Ärmelgurte, die von der herrschenden Armeemode inspiriert waren. Hinter ihm hing ein grosses Gemälde, das eine Brücke über der Seine zeigte. Die gegenüberliegende Wand zierten Bücherschränke, deren Türen verglast waren. Charles hatte noch nie solch schöne Möbel gesehen. Selbst der Tisch, hinter dem der Generalprokurator sass, war kunstvoll geschnitzt. In der Tischplatte waren farbige Marmorstücke. Die Füsse waren sehr dünn, leicht nach aussen geschwungen und mit Metallverzierungen dekoriert. Der Generalprokurator schien Grossmutter Dubut gut zu kennen. Er lächelte auf jeden Fall sehr vertraut, als er ihre Hand ergriff und eine ganze Weile lang festhielt. Der Blick war so konspirativ, dass Charles augenblicklich begriff, dass die beiden früher eine Affäre gehabt hatten. Jetzt war Grossmutter Dubut zu alt, um mit ihrem Körper zu bezahlen. Der Generalprokurator musterte den jungen Charles. Er schien von seiner athletischen Erscheinung beeindruckt.

»Habe ich zu viel versprochen?«, fragte Grossmutter Dubut energisch und erwartete stolz die Antwort des Generalprokurators. Dieser schwieg. »Er ist doch gross und robust! Kein Mensch würde annehmen, dass er noch so jung ist. Und er hat noch nicht aufgehört zu wachsen. Er schlägt seinem Grossvater nach. Mein Mann war ein Riese, kräftig wie ein Bär, und er bewahrte stets ruhig Blut.«

Der Generalprokurator schmunzelte. »Es haben sich viele Leute aus der Provinz beworben«, sagte er. »Monsieur de Paris ist das bestbezahlte Henkeramt in ganz Frankreich.«

Grossmutter Dubut machte eine verächtliche Handbewegung und ereiferte sich: »Was sind denn das für Leute? Landstreicher? Kriminelle? Entlassene Galeerensträflinge oder Leute wie der Henker von Montpellier, der bei jeder Hinrichtung in Ohnmacht fällt und an Mariä Himmelfahrt die Ziegen des Sattlers bespringt?«

Insgeheim hoffte Charles, dass sich Grossmutter Dubut mit dem Generalprokurator zerstreiten würde. Doch dieser schien eher amüsiert: »Es sind Ihre entfernten Verwandten, Madame, die Jouennes, die Cousins Ihres Enkels.«

»Die Jouennes?«, schrie Grossmutter Dubut. »Aber wer zum Teufel steht in Paris auf dem Schafott: die Jouennes oder die Sansons? Wir stehen in der Gunst des Königs. Keiner hat sich je über uns beklagt. Mein Enkel Charles wird der Beste von allen sein. Gott hat ihm alle Fähigkeiten gegeben, um dieses Erbe anzutreten und seinen Dienst zur vollen Zufriedenheit des Königs zu verrichten. Das Volk wird ihn lieben.«

»Die Jouennes haben mir vierundzwanzigtausend Livre angeboten.« Der Generalprokurator lächelte unbeeindruckt.

Grossmutter Dubut zog mit einer barschen Handbewegung eine lederne Geldbörse aus ihrer Schosstasche. »Vierundzwanzigtausend Livre, das ist doch lächerlich. Daran sehen Sie, wie wenig ihnen das Amt bedeutet.« Sie leerte die Geldbörse aus. Schwere Goldmünzen purzelten auf den Tisch.

Der Generalprokurator lächelte nicht mehr. Nun schien er sehr ernst. »Ich habe die Jouennes ins Châtelet werfen lassen«, murmelte er und musterte Charles sehr eindringlich. Charles streckte den Rücken durch, atmete tief ein und hielt die Luft an, um den Brustkorb kräftiger erscheinen zu lassen. Er tat es instinktiv, ohne daran zu denken, dass er gerade dabei war, seine Grossmutter zu unterstützen. Mit eiserner Miene steckte diese die Goldmünzen wieder in ihre Lederbörse. Sie war nun sehr gekränkt. Aber sie war nicht die Frau, die einen Fehler hätte zugeben können. In solchen Situationen reagierte sie mit Wut und Zorn, um von der Schmach der Zurechtweisung abzulenken. »Ich habe Sie noch nie um etwas gebeten«, sagte sie eindringlich und lehnte sich in konspirativer Manier über den Tisch. »Schauen Sie mich an, Monsieur, Gott hat mir nur deshalb ein langes Leben geschenkt, damit es mir vergönnt ist, das blutige Vermächtnis der Sansons zu wahren und weiterzugeben. Zum Wohle des Königreiches.«

Der Generalprokurator nickte nachdenklich. Es war nicht auszumachen, welche Entscheidung er nun fällen würde. »Madame Dubut«, sagte er trocken, »haben Sie noch nie daran gedacht, sich bei der Comédie-Française zu bewerben?«

Sie hatte keinen Sinn für Humor und sagte stattdessen in beinahe feierlichem Ton: »Ich bitte Sie hiermit gnädigst, meinem Enkel Charles-Henri Sanson, der hier vor Ihnen steht, das Amt seines Vaters Jean-Baptiste Sanson zu übergeben.«

»Sie wollen den Sansons die Herrschaft über das Schafott sichern, Madame.« Es war keine Frage, eher eine Feststellung. »Nun gut, Madame, Ihr Enkel soll den blutroten Mantel tragen und das Schwert der Gerechtigkeit führen. Das Amt soll ihm kommissarisch anvertraut werden, bis Ihr Sohn, der hochgeschätzte Jean-Baptiste Sanson, verstorben ist. Anschliessend soll Ihr Enkel Charles offiziell Monsieur de Paris sein.« Er betätigte die kleine Glocke auf seinem Schreibtisch. Ein junger Mann in blauer Livree betrat wenig später den Raum und verbeugte sich tief vor dem Generalprokurator. Dieser gab ihm die Order, die Ernennungsurkunde auszustellen und den Entscheid zu publizieren. Als der Diener den Raum wieder verlassen hatte, wandte sich der Generalprokurator an Charles: »Sie sind erst seit kurzem wieder in Paris. Aber ich nehme an, Sie wissen, wer Robert-François Damiens ist?«

Charles nickte, während Grossmutter Dubut an seiner Stelle antwortete: »Natürlich weiss er, wer Damiens ist.«

Der Generalprokurator tadelte Grossmutter Dubut mit einem strengen Blick. »Ich habe Ihren Enkel gefragt, nicht Sie, Madame! Noch sind Sie nicht Mitglied meiner Behörde.« Er schmunzelte. »Immer noch das gleiche lose Mundwerk!« Nun schwieg sie. Charles freute sich insgeheim, dass es jemand gewagt hatte, den Drachen zurechtzuweisen. Der Generalprokurator nahm ein Schreiben aus der obersten Schublade und reichte es Charles. Instinktiv wollte Grossmutter Dubut das Blatt an sich nehmen, doch der Generalprokurator hob drohend den Zeigefinger, und sie liess von ihrem Vorhaben ab. Er kannte den Text auswendig und spulte ihn herunter, ohne dabei Charles aus den Augen zu lassen: »Robert-François Damiens wurde gestern vom Pariser Gerichtshof für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Er wird zuvor der peinlichen Befragung unterworfen.« Er legte eine Pause ein und sah Charles eindringlich an. »Sie wissen, was die peinliche Befragung bedeutet?«

Charles nickte. Diese Foltermethode umfasste alle Grausamkeiten, die sich Christen seit der Inquisition je ausgedacht hatten.

»Und ausserdem«, fügte der Generalprokurator an, »soll Damiens mit der Zange gerissen werden. So steht es im Urteil.«

Nun war sogar Grossmutter Dubut sprachlos. Das Zangenreissen war derart grausam, dass es längst nicht mehr praktiziert wurde. Wer sollte also diese elende Tortur beherrschen und ausführen? Sie warf Charles einen mitleidigen Blick zu. Dieser hob nur kurz die Wimpern an. Auch ihm fehlten die Worte.

»Sie werden Hilfe benötigen, junger Mann«, sagte der Generalprokurator mit sehr ernster Stimme. »Verpflichten Sie den Henker von Versailles, Ihren Onkel Nicolas Sanson. Ihm ist noch nie ein Fehler unterlaufen. Er macht tadellose Arbeit, geschickt und würdevoll. Wie alle Sansons. Und für das Zangenreissen gibt es in Brest einen ausgewiesenen Folterknecht. Den können Sie verpflichten. Er heisst Soubise. Ich erwarte hervorragende Arbeit. Ganz Frankreich, nein, ganz Europa wird Sie beobachten. Wenn Sie das bestehen, sind Sie ein gemachter Mann. Aber werden Sie mir ja nicht ohnmächtig. Das mögen die Menschen überhaupt nicht.«