Den Abend verbrachte Charles mit Dominique am Klavier. Sie spielten Galanterien von Bach, die Lieblingsstücke ihres Vaters. Dieser sass friedlich in seinem braunen Fauteuil, den Kopf auf die Brust gesenkt, die Augen geschlossen. Er schlief nicht. Er genoss. Er freute sich sehr über die Ernennung seines Sohnes Charles. Die vorläufige Ernennung war bei Minderjährigen üblich und gleichzeitig auch eine Respektbezeugung gegenüber dem bisherigen Amtsinhaber, weil man ihm dadurch die Würde liess, trotz Unfähigkeit den Titel behalten zu dürfen.
Obwohl Charles allen Grund gehabt hätte, auf seinen Vater böse zu sein, hatte er an jenem Abend keinen grösseren Wunsch, als sich zusammen mit seiner Schwester ans Klavier zu setzen. Er spielte mit viel Gefühl für den Mann, der seinen Traum erst befördert und dann zerstört hatte.
Am nächsten Tag zitierte Charles einen Gehilfen zu sich und befahl ihm, nach Versailles zu reiten, um Onkel Nicolas zu benachrichtigen. Er schickte einen zweiten Gehilfen nach Brest zu Meister Soubise. Charles’ Geschwister waren mächtig stolz auf ihren Bruder. Er würde den Mann hinrichten, über den ganz Paris sprach. Er würde den Mann töten, der den König verletzt hatte. Dadurch trat Charles aus dem Schatten Seiner Majestät und wurde persönlicher Rächer des Königs. Und sie waren die Geschwister des Mannes, der das Urteil vollstreckte.
Wenige Tage später brachte ein Gerichtsdiener das schriftliche Urteil, das die auszuführende Folter so genau beschrieb, dass einem bereits beim Lesen der Mund austrocknete und der Atem stockte. Charles wurde speiübel. Er spürte eine Faust im Oberbauch, die ihm schier die Luftröhre abwürgte. Mit Wut und Verbitterung nahm er das Getuschel seiner Geschwister auf der langen Ofenbank wahr, während Onkel Nicolas ihm die Hand auf die Schulter legte. Er schien zu spüren, was in Charles vorging. Auch Jean-Baptiste spürte, was in seinem Sohn vorging, aber die Lähmung verhinderte, dass er ihn berühren und besänftigen konnte. Obwohl Jean-Baptiste seinen Bruder Nicolas sehr schätzte, neidete er ihm, dass er nun seinem Sohn am nächsten stand. Dominique vertrieb die Geschwister von der Ofenbank. Selbst die Katzen sprangen von den braunen Kacheln herunter. Keiner von denen, die sich nun an der Aufgabe ihres Bruders ergötzten, würde am Tage der Hinrichtung auf dem Schafott stehen und einen Menschen bei lebendigem Leibe langsam zu Tode foltern.
»Wir sind keine Folterknechte«, sagte Jean-Baptiste immer wieder, »wir richten mit dem Strick oder mit dem Schwert, aber wir foltern nicht. Das tun andere.«
Charles glaubte seinem Vater kein einziges Wort, doch er wagte nicht, ihm zu widersprechen. Er war sich durchaus bewusst, dass er im Namen der Gerechtigkeit das Urteil des Gerichts zu vollstrecken hatte. Aber ihm war auch klar, dass man einen wie Damiens einer öffentlichen Folter unterziehen würde, wie sie die Welt seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gesehen hatte. Denn das Volk hungerte, und falls es zutraf, dass der Attentäter Damiens sich als Rächer des Volkes sah, dann wollte der König ganz bestimmt ein grausames Exempel statuieren. Charles war sich nicht so sicher, ob dieses Exempel genügen würde. Er spürte instinktiv, dass Damiens etwas zum Leben erweckt hatte. Einige verehrten ihn klammheimlich als Helden, denn auch sie hungerten wie er und vegetierten wie Ratten in den Gassen. Charles war überzeugt, dass es Zigtausende von kleinen Damiens gab, und es war kaum auszudenken, was passieren würde, wenn all diese eines Tages aus der Dunkelheit hervortreten würden. Charles fühlte sich Damiens näher als dem König. Er verehrte den König, aber wenn dieser die gleiche zynische Haltung einnahm wie Antoine, dann war er ein schlechter Herrscher. Damiens begann Charles zu beschäftigen, aber es gab niemanden, mit dem er darüber hätte reden können. Nur sein Tagebuch.
Obwohl die Zeit knapp war, suchte Charles das Collège Louis-le-Grand auf. Er spürte ein grosses Verlangen, Dan-Mali zu sehen. Sie entdeckte ihn sofort und rannte zu ihm über die Strasse. Sie strahlte vor Freude und berührte Charles zaghaft am Arm. Dann kramte sie nervös einen Zettel aus ihrer Tasche und las: »Ich vermisse Sie. Ich lerne Französisch. Dann reden wir.«
Charles nickte eifrig. Er suchte nach einfachen Worten, die seine Gefühle ausdrücken konnten, doch Dan-Mali wurde von ihren Freundinnen gerufen, die auf der anderen Strassenseite auf sie warteten. Sie rannte zu ihnen hinüber. Bevor sie hinter der Mauer verschwand, schaute sie noch einmal zurück und winkte zaghaft.
»Sag ihm die Wahrheit«, insistierte Onkel Nicolas, »dein Junge wird das Schafott besteigen müssen. Zunächst der erste Gehilfe, dann er, dann folge ich mit Damiens. Bevor das Zangenreissen beginnt, kann er wieder hinuntersteigen und am Fuss der Treppe warten. Aber für die Eröffnung der Vollstreckung muss er sich dem Volk zeigen. Er steht an deiner statt auf dem Schafott.«
Entsetzt schaute Charles zu seinem Vater, der seinem Blick auswich.
»Spiel mir etwas auf dem Klavier«, sagte Jean-Baptiste, »das Klavier vermisse ich mehr als das Schafott.«
Beklommen setzten sich Charles und Dominique an das Instrument und begannen zu spielen. Er spielte schlecht. Es war grausam, ihn in dieser Verfassung ans Klavier zu zwingen. Er hasste seinen Vater dafür. Aber er konnte ihm nicht widersprechen. Grossmutter Dubut sah das Leid und die Zerrissenheit in seinem Herzen, aber sie kannte kein Mitgefühl. Sie predigte Härte wie eine Religion. Doch sie hatte einen Schweinebraten zubereitet, so wie ihn Charles liebte. Es berührte ihn sehr, denn es war das einzige Zeichen von Zuneigung, das er jemals von ihr erfahren hatte: ein saftiges Stück Schweinebraten, in Speck gebunden und mit einer cremigen Pilzsauce, die wohl mehr Cognac als Rahm enthielt. Auch dafür liebten ihn die Geschwister, denn auch diesen Genuss bescherte er ihnen mit dem, was er am nächsten Tag zu tun bereit war.
Nach dem Essen legte sich Grossmutter Dubut hin und bat Charles an ihr Bett. Ihr Verhalten ihm gegenüber hatte sich seit dem Besuch beim Generalprokurator verändert. Sie hatte durchaus registriert, dass er bemerkt hatte, dass sie einst eine Affäre mit dem Beamten gehabt hatte. Das hatte sie in ihrem Stolz verletzt. Sie hatte vor ihrem Enkel das Gesicht verloren. Als zählte sie insgeheim auf seine Diskretion, war sie von da an weniger grob zu ihm gewesen. Auch die Sache mit dem Geld hatte sie gedemütigt, denn auch dies hatte sich in seiner Anwesenheit ereignet. Er hatte erfahren, dass seine gefürchtete Grossmutter ausserhalb der häuslichen vier Wände bedeutungslos war. Bloss eine alte Frau. Bestimmt war aber auch von Bedeutung, dass Charles nun das Einkommen der Familie sicherte. Bald würde er der Familie vorstehen. Bald würde sie ihre Macht verlieren. Sie schaute ihm lange in die Augen, als versuchte sie, darin etwas zu lesen. Schliesslich ergriff sie seine rechte Hand und gab ihm einen Talisman, der eine geborstene Glocke darstellte.
»Charles«, sagte sie mit ruhiger und ernster Stimme, »dein Urgrossvater trug diese kleine Silberglocke um den Hals und vererbte sie seinem Sohn. Das ist bis heute Brauch. Die geborstene Glocke ist das Wappen der Sansons. Es ist eine Glocke ohne Klöppel. Es ist eine Glocke, die keinen Ton von sich gibt. Unsere Glocke läutet nie. Es ist die Glocke der Sansons. Egal, wie gross dein Schmerz ist, keiner wird dich hören. Ein Sanson schweigt und tut seine Pflicht.«
Sie drückte ihrem Enkel das kleine Amulett in die Hand. »Halte es fest«, sagte sie leise. »Wenn du morgen auf dem Schafott stehst, wirst du die Kraft der Sansons spüren. Hab keine Angst, Charles. Unsere Phantasie quält uns mehr als die Realität. Wenn dich trübe Gedanken plagen, wie alle Sansons, dann geh hinaus in die Wälder. Das Reiten und die Jagd haben das Herz all deiner Vorfahren erfreut. Auch die Musik und die Literatur haben manchem Trost gespendet, obwohl ich beides für unnütz halte. Vor allem aber hüte dich vor der Einsamkeit. Sie wurde manchem Sanson zum Verhängnis. Nimm dir deshalb ein starkes Weib. Ein Sanson braucht ein starkes Weib, Charles, denn am Ende sind sie alle gelähmt.«