»Grossmutter«, sagte Charles leise, »wieso sprichst du so mit mir?« Er ahnte Unheil. In diesem Augenblick wünschte er sich, dass sie da sein würde, wenn er morgen spätabends nach Damiens’ Hinrichtung nach Hause zurückkehrte.
»Vielleicht hast du mich manchmal gehasst«, sagte sie leise, »du hast mich nie sonderlich gemocht. Doch ich habe den Sansons die Herrschaft über den Thron des Todes gesichert. Jetzt seid ihr unantastbar. Denn von nun an seid ihr für immer die Henker der Könige und die Rächer des Volkes. Du wirst der Grösste aller Sansons. Unter dir werden du und deine Brüder zu geachteten Mitgliedern der Gesellschaft werden. Ich weiss es. Ich habe euch alle gesehen. Du bist der Stärkste und Mutigste von allen. So einen wie dich hat die Dynastie der Sansons noch nicht gesehen.«
Während sie die letzten Worte sprach, schloss sie die Augen und liess Charles’ Hand los. Er erhob sich leise. Er wollte sie nicht wecken. Er verliess das Schlafzimmer und ging in den Hof hinaus. Dort sass Dominique in der Sonne. Er setzte sich neben sie.
»Sag mir, Dominique, liegt ein Fluch über unserer Familie?«
»Ich weiss es nicht, Charles. Ich denke, die meisten Menschen in Paris glauben, dass sie verflucht sind. Denn sie leben in bitterster Armut und ohne Hoffnung. Ich glaube, der Fluch besteht darin, geboren zu werden.«
»Dann war es also richtig, was Damiens versucht hat.«
»Ja, Charles, der König lässt sein Volk verhungern. Aber Gott liebt ihn mehr als das einfache Volk von Paris. Er hat den König geschützt und schickt Damiens in den Tod.«
»Zweifelst du an Gott, Dominique?«
»Ja, Charles.«
»Wenn es keinen Gott gibt, dann gibt es auch keinen Fluch.«
Dominique nickte.
»Wenn Vater und Grossmutter nicht mehr sind, dann werde ich das Amt wieder abgeben und Arzt werden, Dominique.«
Sie spürte, dass er jemanden brauchte, der ihm dafür die Absolution erteilte. Dies würde ihm die Kraft geben, die Zeit auf dem Schafott durchzustehen. »Ja, Charles, du wirst eines Tages ein guter Arzt werden«, sagte sie und strich zärtlich mit ihrem Finger über seine Faust. Er öffnete sie, Dominique sah das Amulett und lächelte. »Jetzt bist du Monsieur de Paris, Charles.«
»Vorläufig«, sagte er, und es klang wie eine Bitte.
Monsieur de Paris, in der Tat ein hübscher Begriff, aber er war kaum in Einklang zu bringen mit den erschütternden Dingen, die das Gericht Charles zu tun auferlegt hatte. Monsieur de Paris, das klang nobel, elegant, das roch nach edlen Stoffen, Poesie und Mandelseife. Doch am 28. März 1757 sollte es nach verbranntem Menschenfleisch riechen.
Um vier Uhr morgens stieg Charles in die blaue Hose seines Vaters und zog die rote Jacke mit dem gestickten Galgen und der gestickten Leiter an. Den Degen trug er zur Rechten. Den roten Dreispitz setzte er nicht auf. Er hielt den Hut zusammengeklappt unter dem Arm. Mit seinem Onkel stieg er in den ersten Fuhrwagen. Im zweiten Karren sassen fünfzehn Gehilfen in rehbraunen Lederschürzen. Aus allen Teilen Frankreichs hatten sie sich beworben, überwiegend Henker aus anderen Provinzen. An ihren Karren waren vier Pferde gebunden. Es waren kräftige Pferde, denn sie waren ausgesucht worden, um einen Menschen auseinanderzureissen. Die Männer waren auf dem Weg zum Gefängnis.
Langsam wie in einer Trauerprozession setzten sie sich in Bewegung. Sie sprachen kein einziges Wort. Der Morgen graute, Paris erwachte. Von weitem schon sah man die mächtigen runden Türme der Conciergerie. Sie strahlten Autorität und Gewalt aus. Ihre nach oben spitz zulaufenden schwarzen Dächer glichen monumentalen Scharfrichtern, die die Gefangenen bereits erwarteten. In einem dieser Türme wurde Damiens seit bald drei Monaten gefoltert. Dies geschah im Montgomery-Turm, benannt nach dem Grafen von Montgomery, der Henri II bei einem Turnier tödlich verletzt hatte. Charles und seine Gehilfen passierten das wuchtige Eisentor, das in den Hof des Verwaltungspalastes führte. Die Conciergerie war mehr als ein Gefängnis. Hier arbeitete auch das Gericht. So hatten die Richter jederzeit raschen Zugriff auf die Gefangenen, die in den unterirdischen Geschossen der Türme gefoltert wurden. Im Hof standen schwerbewaffnete Polizisten. Der Concierge führte die Henker in einen kleineren Hof, der zur Sainte-Chapelle gehörte. Gemeinsam stiegen sie die schwere, in Stein gehauene Wendeltreppe hinunter, die in die Welt des Schmerzes führte.
Der meistbewachte Mann Frankreichs war im untersten Verlies des Montgomery-Turms untergebracht. Es stank nach Moder und Fäulnis. Die Luft wurde merklich kühler. Das flackernde Licht wirkte gespenstisch. Jeder Schritt hallte wider in diesen engen Gemäuern. Plötzlich erschallte ein ohrenbetäubender Schrei. Dann war es wieder so still, dass man sich fragte, ob man tatsächlich den Schrei eines Menschen gehört hatte. Schliesslich standen sie vor einer wuchtigen Zellentür. Damiens’ Verlies wurde von mehreren Gendarmen bewacht. Es stank nach verbranntem Menschenfleisch, als die metallbeschlagene Eichentür aufgestossen wurde. Die Luft im Kerker war heiss, stickig, staubig und presste sich wie eine Faust auf die Lunge. Kein Luftzug verschaffte Linderung. Damiens lag auf einem Folterrost. Man hatte ihn mit Lederriemen derart festgezurrt, dass er sich nicht bewegen konnte. Seit Wochen vegetierte er auf diesem Rost. Darunter hatte man Stroh ausgelegt, um seinen Kot aufzufangen. Doktor Boyer, der Gerichtsarzt, kniete neben ihm und löste die blutdurchtränkten Schafshäute von seinen Beinen. Damiens’ Unterschenkel waren wie Würste am Spiess aufgeplatzt. Das linke Bein war gebrochen und aufs Übelste verrenkt. Am Kopfende sassen vier Soldaten vom Garderegiment und starrten auf den regungslosen Damiens. Doktor Boyer gab einem von ihnen den Befehl, die qualmenden Fackeln durch Wachskerzen zu ersetzen. Er fürchtete, Damiens würde in der stickigen Luft kollabieren und seine Hinrichtung nicht mehr bei vollem Bewusstsein erleben. Mit beinahe väterlicher Fürsorge untersuchte er den Körper des Gefangenen. Der Arzt war dem Gericht gegenüber verantwortlich, dass Damiens lange genug lebte, um alle Torturen zu erleiden, die im Urteil aufgelistet waren. Einer der Soldaten hatte einen Hund dabei. Er fütterte diesen mit speckigem Haferbrei und beobachtete ihn beim Fressen sehr aufmerksam. Nach einer Weile griff er mit drei Fingern in die Schüssel. Nun war Damiens an der Reihe. Der Soldat hatte die Weisung, dafür zu sorgen, dass Damiens nicht vergiftet wurde. Er sollte leben. Er sollte leiden. Damiens rührte sich nicht. Der Brei blieb an seinen blutleeren Lippen kleben.
Robert-François Damiens war ein völlig abgemagerter Mann von zweiundvierzig Jahren. Man erzählte sich, sein Vater habe sich zu Tode gesoffen und seine Mutter sei an Skorbut gestorben. Ein Onkel habe ihn grossgezogen und ihm eine Ausbildung ermöglicht, doch Damiens sei, von einer steten Unruhe getrieben, in die Welt hinausgezogen und habe sich durch die Schlachtfelder Europas gekämpft, habe vorübergehend einem Schweizer Offizier als Feldjunge gedient und sei schliesslich krank und erschöpft in Paris gestrandet. In zahlreichen vornehmen Häusern habe man den gutaussehenden jungen Mann, den alle »Spanier« nannten, verpflichtet, als erotisches Spielzeug missbraucht und später gelangweilt vor die Tür gesetzt. Er habe sich wieder aufgerappelt und im Palast eines Grafen eine Anstellung gefunden. Doch eines Nachts habe der König seinen Herrn verschleppen lassen, weil dessen adlige Abendgesellschaften Rousseau, Voltaire und Montesquieu diskutierten und die Damen und Herren plötzlich Mitgefühl für die hungernde Bevölkerung zeigten. Der Graf habe Damiens immer wieder Kleider und Geld geschenkt, so dass dieser später beim Pont Neuf einen kleinen Krämerladen hatte eröffnen können. Aber die revolutionären Ideen des Grafen hätten seinen Geist nie mehr ruhen lassen, und seitdem habe ihn der Anblick der leidenden und hungernden Bevölkerung mit Zorn erfüllt. Als dann der grosse Hunger seinen Schleier über Paris legte, habe Damiens seinen Laden schliessen müssen. Niemand weiss, wann er den Entschluss gefasst hat, den König zu töten. Mag sein, dass Damiens nicht ganz bei Verstand war, aber es ändert nichts daran, dass er aus Mitgefühl handelte, aus Mitgefühl für das französische Volk, das ein erbärmliches Dasein fristete, während der König die Steuergelder der Bauern und Arbeiter verprasste und sich mit seiner adligen Entourage amüsierte. Diese hatte ihm in den vergangenen Wochen in Versailles Gesellschaft geleistet, um in vergilbten Schriften Foltermethoden zu finden, die geeignet waren, den Attentäter Damiens besonders grausam zu bestrafen. Sie waren bei ihren Recherchen bis in die römische Antike zurückgegangen. Doch die grausamsten Folterungen, die sich der menschliche Geist je ausgedacht hat, fanden sie bei den päpstlichen Inquisitoren, die jeden, der an ihrem rachsüchtigen Gott zweifelte, qualvoll folterten und töteten. Die Christen hatten das Paradies auf das Jenseits verlegt und die Hölle auf Erden installiert.