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Er wurde von einer entsetzlichen Angst gepackt. Erneut dachte er an den Fluch. Er musste diesen Schuppen verlassen. Mochte sein, dass sein Leben verflucht war, aber dieser Ort war es ganz bestimmt ebenso. Kaum hatte er sich entschlossen zu fliehen, geriet er in Panik und fürchtete, in letzter Minute aufgehalten zu werden. Eilig schritt er zum Scheunentor. Draussen auf dem Hof erschallte Hufgetrampel. Es mussten mindestens ein halbes Dutzend Reiter sein. Als er einen Torflügel einen Spaltbreit öffnete, sah er, dass die Reiter leichtbewaffnete Dragoner waren. Sie trugen Musketen und weisse Uniformröcke. An den Farben der Kragen, Ärmelaufschläge und Rabatten erkannte man ihre Zugehörigkeit zum Regiment des Marquis de La Boissière. Die Tür des gegenüberliegenden Wohnhauses öffnete sich, und der Hüne trat in den Hof hinaus.

»Braucht ihr Wasser für eure Pferde?«

»Wir suchen einen Deserteur. Hast du einen gesehen, der sich rumtreibt?«

»Niemand verirrt sich hierher. Und freiwillig sucht niemand dieses Gehöft auf.«

Der Anführer riss die Zügel herum. Er hatte es eilig. Dann drehte er sich noch mal um. »Wir reiten weiter nach Paris. Auf dem Rückweg werden wir dich nochmals besuchen. Sei also wachsam.«

Der Dragoner gab seinem Pferd die Sporen. Er preschte über den Hof. Die anderen folgten ihm. Sie ritten Richtung Wald.

Jean-Baptiste hatte den Atem angehalten. Als die Dragoner weg waren, öffnete er das Scheunentor ganz. Doch der Hüne versperrte ihm den Weg. Sein mächtiger Oberkörper verdeckte die Sonne und verfinsterte das Innere der Scheune. »Tu es nicht«, sagte er, »nur hier bist du sicher. Du solltest den Winter über hierbleiben. Du kannst mir helfen, das Dach zu erneuern.«

Jean-Baptiste wühlte im Stroh. »Wer sind Sie?«

»Suchst du deine Satteltasche?«, fragte der Hüne und trat ins Stroh. Er schob die Tasche mit dem Fuss zu Jean-Baptiste, der sie sofort öffnete. Sie war leer. Wütend starrte er den Hünen an. »Die Tasche ist leer.«

»Und wo ist mein Offizierspatent?«

Der Hüne nahm ein Dokument aus seiner Brusttasche und zerriss es. Er hatte grosse, kräftige Hände.

Dieser Mann verdient sein Geld nicht an einem Schreibtisch, dachte Sanson.

»Das war dein Offizierspatent, Chevalier. Du wirst es nicht mehr brauchen. Du bist ein Deserteur. Du wirst nirgends Arbeit finden, keine warme Suppe, kein Dach über dem Kopf. Du hilfst mir, und ich helfe dir. Bald fällt der erste Schnee, dann wird das Stroh in der Scheune nass und faulig. Ich werde dir helfen, aber du musst schwören, dass du bis zum Frühling hierbleibst.«

»Ich schwöre Ihnen …«

»Mir musst du nichts schwören, Chevalier. Schwöre vor Gott. Ich würde dich töten, wenn du deinen Schwur brichst, aber Gott würde dich bestrafen. Und Gottes Strafe ist übler als der Tod.«

»Ich schwöre vor Gott. Ich werde alles tun, was Sie verlangen, wenn ich mich hier verstecken kann, bis mein Regiment abgezogen ist.«

»Das sagt sich so leicht, aber würdest du auch einen Pakt mit dem Teufel schliessen?«

»Ja«, sagte Jean-Baptiste mit schwerer Zunge, »aber Sie sind nicht der Teufel. Sie können Schmerzen lindern.«

Der Hüne neigte nachdenklich den Kopf und musterte ihn eindringlich. Nach einer Weile sagte er: »Ich kann Schmerzen lindern, weil ich auch Schmerzen zufügen kann. Ich bin wie das Feuer. Es kann eine Wunde heilen, aber es kann auch eine Wunde zufügen, Schmerz verursachen. Wenn du in meine Welt eintrittst, betrittst du die Welt des Schmerzes.«

Jean-Baptiste starrte auf den abgetrennten Arm. Der Hüne nahm es mit einem Lächeln zur Kenntnis und ging zum Tisch hinüber. Der junge Mann folgte ihm. »Ich werde dir helfen, das Dach zu erneuern, bevor der erste Schnee fällt.«

»Du wirst an meinem Tisch essen und unter meinem Dach schlafen. Dafür sollst du mir als Geselle dienen. Bis die ersten Bäume Blüten tragen. Falls dein Regiment dann noch in der Gegend ist, kannst du auch länger bleiben. Ich brauche dringend einen Gesellen.«

»Ist es denn so schwierig, einen Gesellen zu finden? Die Menschen leiden Not und Hunger. Jeder Mensch wünscht sich nur eins in diesen düsteren Tagen: Arbeit.«

»Aber nicht diese Art von Arbeit«, antwortete der Mann, »wir werden nicht nur das Dach erneuern.«

»Welcher Art ist denn Ihre Arbeit?«, fragte Jean-Baptiste. Das Misstrauen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Ich bin Beamter der Justiz. Und du bist jetzt mein Geselle, Chevalier. Ich bin geächtet. Dich werden sie auch ächten.«

Jean-Baptiste wurde kreidebleich. Allmählich schöpfte er einen unheimlichen Verdacht. »Wieso wird ein Beamter der Justiz geächtet?«

Der Hüne griff im Dunkeln nach einem Gegenstand, der an der Wand hing. Als er ins Licht trat, sah Jean-Baptiste, dass es ein Zweihänder war. Der Hüne stach die Schwertspitze in den hölzernen Boden und stützte sich mit beiden Händen auf dem Griff ab.

»Ich bin Meister Pierre Jouenne, Scharfrichter von Caudebec-en-Caux. Ich arbeite für die Stadt Rouen und die Vizegrafschaft Dieppe.«

»Nein!«, brüllte Jean-Baptiste verzweifelt. »Nein! Nein! Nein!«

Er stürmte an Jouenne vorbei ins Freie. Im Hof stand ein Pferd an der Tränke. Er ergriff die Zügel und schwang sich auf den Rücken. Gerade wollte er dem Pferd die Sporen geben, als ein schriller Pfiff über den Hof schallte. Das Pferd blieb sofort wie angewurzelt stehen. Jean-Baptiste stürzte über den Kopf des Pferdes nach vorn und blieb nach einem Aufschrei auf dem harten Steinpflaster liegen.

Jouenne pflanzte sich vor ihm auf. »Tu das nicht noch mal, ich würde dich bis nach Paris verfolgen und dir ungeheuerliche Schmerzen zufügen. Ich weiss, wie man peinigt, ohne zu töten. Zwing mich nicht. Nicht jetzt. Ich beginne gerade, dich zu mögen.«

Jean-Baptiste rappelte sich auf und stöhnte. Instinktiv griff er nach der Stelle, die Jouenne am Abend zuvor gesäubert hatte. Sie blutete erneut. »Ich bin nicht in die Neue Welt geflohen, um dann doch noch Henker zu werden«, keuchte er. »Ich bin zur Armee gegangen, um dem Fluch, der auf meiner Familie lastet, zu entkommen. Mein Vater, mein Grossvater, alle meine Vorfahren waren Henker. Sie stammen aus Abbeville in der Picardie.«

»Du solltest stolz sein, in eine solche Familie geboren worden zu sein.«

»Das ist nicht meine Welt!«

»Es gibt nur eine Welt, und jeder hat den Platz einzunehmen, den ihm Gott zugewiesen hat. Es gibt keine andere Welt. Du musst erfüllen, was vorbestimmt worden ist.«

»Es gab einen Vorfahren, der war Kartograph …«

»Nicolas Sanson«, sagte Jouenne.

Jean-Baptiste war erstaunt.

»Dachtest du etwa, ich sei dumm und ungebildet, nur weil ich Scharfrichter bin?«

»Nein, Meister Jouenne«, log Jean-Baptiste.

»Hör mir jetzt gut zu, Chevalier, du meinst, auf deinem Geschlecht lastet ein Fluch. Du wolltest ihm entkommen. Du hast deine Familie verlassen, du hast dich bei der Armee verpflichtet, du bist in die Neue Welt gefahren und hast dort gekämpft. Du hast überlebt und bist zurückgekehrt. Du bist desertiert. Du wolltest dem Fluch deiner Familie entkommen, und jetzt bist du mein Geselle. Erkennst du den Fluch? Er folgt dir wie dein eigener Schatten. Du kannst dein Schicksal erkennen, aber du kannst ihm nicht entrinnen. Die Kiefer stemmt sich gegen den Sturm und wird entwurzelt, doch die Weide biegt sich und überlebt. Nimm dieses verfluchte Leben an, und lerne zu vergessen. Der Schmerz entsteht, wenn man zurückblickt, die Angst beginnt zu keimen, wenn man an die Zukunft denkt. Versuch, nur den heutigen Tag zu sehen. Heute fehlt dir nichts. Komm, ich zeig dir etwas.«

Jouenne ging in die Scheune zurück, nahm den losen Arm vom Tisch und zeigte ihn Jean-Baptiste, der einen Schritt zurückwich.