Im Mai 1789 war der Zerfall des Königreichs für alle offensichtlich. Kriege in Übersee während der letzten Jahrzehnte hatten die Finanzen des Königs aufgebraucht. Was übrig blieb, verprasste die Königin mit nächtelangen Festen, die über vierhunderttausend Livre pro Nacht kosteten. Noch teurer waren die Renten, mit denen sie Freundschaften pflegte. Der Herzogin von Polignac schenkte sie über eine Million Livre, ihrem Liebhaber eine Jahresrente von dreissigtausend Livre. Und zwar dafür, dass er an ihren Festen teilnahm. Der König schaute tatenlos zu, nein, er schaute weg, wie immer zögerlich, abwartend, träge, einzig seinem Hobby, der Jagd, verpflichtet und seiner merkwürdigen Leidenschaft als Schlosser. Er konstruierte kunstvolle Türschlösser. Währenddessen nahm die Krone Anleihen von weit über einer Milliarde Livre auf und erwog, die Steuern abermals zu erhöhen, allerdings nur jene der Bauern, Handwerker und Tagelöhner. Klerus und Adel bezahlten kaum Steuern. Die Ärmsten finanzierten den Lebensunterhalt der Reichsten. Die Lage schien ausweglos, bis der Ruf laut wurde, nach über hundertsiebzig Jahren wieder die Generalstände einzuberufen, weil nur die Vertretung der gesamten Nation, also Adel, Klerus und Bürger, über Steuererhöhungen befinden könne.
Die aufgebrachten Menschen in den Strassen mochten Angst und Schrecken verbreiten, wenn sie »Tod den Reichen« skandierten und die Paläste stürmten, aber es war der Adel, der die Reformen vorantrieb, denn die Adligen wussten: Würden sie nicht ein wenig nachgeben, würden sie alles verlieren. Also schlossen sie sich gemeinsam mit dem zögerlichen Klerus den Bürgerlichen an, hoben die drei Stände auf und erklärten sich zur einzigen Vertretung der Nation, zur Nationalversammlung.
Charles ging wie gewohnt seiner Arbeit nach. Gehorsam hängte und köpfte er die zum Tode Verurteilten, brandmarkte Diebe für kleinere Vergehen und erfüllte alle übrigen Pflichten, die man ihm auferlegte, zur vollen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten. Den Applaus der Menge hörte er längst nicht mehr. Wieso sollte er stolz sein, wenn er einen ausgemergelten Kerl brandmarkte, der ein Stück verschimmeltes Brot gestohlen hatte?
Seit dem Umzug ins neue Haus hatte Charles wieder begonnen, an Dan-Mali zu denken. Seine Sehnsucht erwachte erneut. Er fragte sich oft, wie sie jetzt wohl aussah und wie ihr Leben in der Heimat war. In seiner Erinnerung hatte er sie glorifiziert, obwohl er nur wenig mit ihr gesprochen hatte. Plötzlich war er vom Gedanken besessen, sie wiederzusehen.
Als er sich ein paar Tage später dem Jesuitenkloster näherte, hörte er schon von weitem Geschrei. Beissender Rauch kam ihm entgegen. Er sah, wie eine Gruppe zerlumpter Menschen das Kloster mit Steinen und brennenden Strohballen bewarf. Die aufgebrachte Menge beschimpfte die Geistlichen und forderte, dass sie ihre Vorräte herausrückten. Als am anderen Ende der Strasse berittene Polizei auftauchte, flohen die Angreifer. Ein erboster Pater stürmte aus dem Haus und hielt das Pferd eines Polizisten am Zügel fest. »Die Krone hat uns und unser Eigentum zu schützen!« schrie er.
»Wieso? Zahlt ihr etwa Steuern?« Der Berittene lachte und riss sein Pferd zur Seite.
Charles rief dem Pater zu: »Wo sind die Mädchen aus Siam?« Der Pater drehte sich verdutzt um. Als Charles auf ihn zustürmte, hob er abwehrend die Hände und rannte davon. Charles rannte ihm nach und packte ihn an der Kutte. »Wo ist Dan-Mali?«, schrie er. Der Pater schlug mit beiden Armen aus. »Sie lebt schon lange nicht mehr hier.« Konsterniert liess Charles von ihm ab. Der Pater nahm die letzten Stufen und verschwand dann hinter den Klostermauern. Charles realisierte, dass es fast drei Jahrzehnte her war, seit er Dan-Mali zum letzten Mal gesehen hatte. Er fragte sich ernsthaft, ob er denn komplett verrückt geworden war.
Wie benommen ging Charles nach Hause und setzte sich neben Gabriel ans Klavier. Doch keine Melodie konnte seinen Ärger mindern. Schliesslich zog er sich in die Pharmacie zurück und nahm das Tagebuch hervor. Er schrieb nicht über Dan-Mali. Das schien ihm zu schwierig nach all den Jahren. Er schrieb über die Aufstände, die nach und nach das Ausmass einer Revolution annahmen. Das Volk hatte die Reichen zum Feind erklärt. »Wer nicht gibt, dem wird genommen«, schrieb Charles, »aber jetzt bestiehlt jeder jeden.«
Die Übergriffe auf Klöster und Reiche nahmen von Tag zu Tag zu. Zogen am Morgen hundert Menschen durch die Strassen, waren es am Abend bereits Hunderte, die »Tod den Reichen« skandierten. In diesen Tagen traf es merkwürdigerweise den Tapetenfabrikanten Jean-Baptiste Réveillon. Merkwürdigerweise deshalb, weil er, selbst einmal Arbeiter, seinen Angestellten Sozialleistungen bezahlte, was kein anderer Unternehmer in Paris tat. Einige Dutzend Gardisten verteidigten sein Haus, also nahmen sich die Aufständischen das nächste Stadthaus vor, zerstörten das ganze Mobiliar und verbrannten es auf der Strasse. Erstaunlich, dass keiner auf die Idee kam, die Möbel an sich zu nehmen und zu veräussern. Nein, hier herrschte blinde Zerstörungswut, blanker Hass. Wer am lautesten schrie, dem folgte die Menge. Eine Woche später waren es bereits zehntausend Demonstranten, die erneut Réveillons Villa stürmten. Als die Polizei Verstärkung erhielt und Schusswaffen einsetzte, blieben dreihundert Tote im Garten der Villa zurück. Ein hoher Verlust. Doch die Menschen wurden sich ihrer Macht bewusst. Wenn sie zusammen marschierten, konnte sie keine Armee aufhalten. Ein Funke genügte nun, und sie marschierten.
Am 14. Juli 1789 lud Charles Henri ein, gemeinsam das Palais Royal zu besuchen. Marie-Anne war einige Tage zuvor zu ihrer Schwester geritten, wo sie oft längere Zeit blieb. Nicht einmal am zweiundzwanzigsten Geburtstag ihrer Söhne war sie zugegen gewesen. Henri war mittlerweile ein stattlicher Mann geworden, der seinen Vater an Körperlänge übertraf. Ein richtiger Sanson eben. Die Frauen drehten sich kichernd nach ihm um, wie sie es früher bei Charles getan hatten. Dass er der Sohn des Henkers war und bald Monsieur de Paris sein würde, erzählte er jedem, der es hören wollte. Er strotzte vor Selbstbewusstsein. Das Palais Royal lag nur einen Katzensprung vom Markt Les Halles entfernt, wo Tausende von Mehlsäcken an den Hauswänden entlang gestapelt waren und vom Kot der Nachttöpfe bekleckert wurden, die die Anwohner aus den Fenstern kippten. So verfaulte hier das Mehl in den Säcken, während andernorts die Menschen verhungerten.
Das Palais Royal hatte dem Herzog von Orléans gehört, der nach dem Tod des Sonnenkönigs 1715 vorübergehend die Regentschaft übernommen und Frankreich mit einem unkontrollierten Papiergeldexperiment in den Bankrott getrieben hatte. Wie der Sonnenkönig hatte auch er die Frauen, den Wein und das Spiel geliebt und einen verschwenderischen und dekadenten Lebensstil gepflegt. Das Palais hatte er der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, es galt seitdem als grösster Vergnügungspark Europas. Für ein paar Sou konnte man die angeblich fettleibigste Frau der Welt oder fremdländische Männer mit Riesenpenissen bestaunen, hinter einem Vorhang pornographische Zeichnungen anschauen, Spottlieder hören, Theateraufführungen beiwohnen, einen Blick in eine Laterna magica werfen oder das Wachsfigurenkabinett des Berner Arztes und Modellierers Philippe Curtius bewundern, der sich auf Einladung des Prinzen von Conti in Paris niedergelassen hatte. Curtius hatte seine angebliche Nichte Marie Grosholtz aus der Schweiz nachziehen lassen und ihr das Handwerk beigebracht. Es blieb stets ein Geheimnis, ob das Mädchen Marie seine Geliebte, seine uneheliche Tochter oder tatsächlich seine Nichte war. Im Palais Royal gab es keine Hierarchien. Lumpensammler, Prostituierte, reiche Bürgersfrauen und Adlige verkehrten hier. Kein Polizist durfte das Anwesen betreten, was ihm zu enormer Popularität verhalf. Nirgends in Paris gab es einen Ort, wo derart zahlreich illegale Schmähschriften gegen den König verkauft wurden. Und nirgends erfuhr man so rasch, was sich in Paris und Versailles abspielte.
An diesem Tag wollte Charles mit Henri seine Nachfolge diskutieren. Er war bereit, sein Amt abzugeben und sich fortan ausschliesslich der Heilkunst zu widmen. Er wollte diesem Gespräch einen feierlichen Rahmen verleihen. So setzten sie sich in eines der zahlreichen Cafés. Es war ungewöhnlich laut, und Charles fragte sich, ob dies der richtige Ort sei. Am Nebentisch begann sich plötzlich ein Mann zu echauffieren. Er sagte, der aus der Schweiz stammende Finanzminister Jacques Necker sei von König Louis XVI fristlos entlassen worden. Und als hätten sich plötzlich alle Besucher miteinander abgesprochen, skandierten immer mehr Menschen den Namen Necker. Sie wollten ihn zurück, hatte er doch aus seinem Privatvermögen für zwei Millionen Livre Brot gekauft und kostenlos an die hungernde Bevölkerung verteilt. Nicht einmal die Kirche hätte so etwas getan.