»Necker hat sich durch seine Grosszügigkeit am Hof sehr unbeliebt gemacht«, sagte Charles zu Henri, »er bringt Teile des Adels und die Kirchenfürsten in Erklärungsnot. Wenn einer allein für zwei Millionen Livre Brot verschenken kann, wieso können es nicht auch Adel und Kirche?«
Jemand schrie, der König habe die Entlassung Neckers absichtlich auf einen Sonntag gelegt, weil dann die Nationalversammlung nicht tage.
»Das endet böse«, sagte Charles, »ohne Necker geht Frankreich schon wieder bankrott, und damit werden die französischen Staatsanleihen wertlos. Und so mancher Adlige verliert sein ganzes Vermögen.« Er erhob sich. »Komm, Henri, lass uns woanders hingehen.« Sie wollten den Park verlassen, doch Hunderte von Menschen standen ihnen plötzlich im Wege und verharrten vor dem Wachsfigurenkabinett. Auch dort skandierten sie »Necker« und forderten die Wachsbüste des Finanzministers, damit man sie im Triumphzug durch die Strassen von Paris tragen konnte. Eine zierliche junge Frau erschien im Eingang. In der Hand hielt sie Neckers Kopf in Wachs. Sie händigte ihn aus. Jetzt wollte die Menge aber noch den Kopf des Herzogs von Orléans. Mit schneidender Stimme schrie die junge Frau, dass dies nicht möglich sei, weil der Kopf untrennbar mit dem Rumpf verbunden sei. Die Menge akzeptierte überraschend die Antwort und zog weiter. Zurück blieb eine resolute, erst siebzehn Jahre junge Frau, Marie Grosholtz. Hinter ihr torkelte ein Mann ins Freie. Es war der Ingenieur François Tussaud. »Mach, dass du wieder ins Haus kommst«, herrschte sie ihn an. Doch er hatte Probleme mit der Balance und sank auf die Knie. Er wollte sich an ihrem Arm festhalten, aber Marie wich ihm aus und ging ins Museum zurück. »Wie soll ich dir bloss einen Heiratsantrag machen?«, jammerte Tussaud. »Willst du denn nicht Madame Tussaud werden?«
Draussen überboten sich die wildesten Gerüchte. Auf den Champs-Elysées hatten sich Tausende versammelt und feierten den Anbruch einer neuen Zeit. Fast hundert Kanoniere schlossen sich ihnen an. Sie waren aus dem Hôtel des Invalides desertiert. Niemand schritt ein. Die Stadt schien führerlos dem Chaos überlassen.
Da stieg Camille Desmoulins, ein junger Anwalt von neunundzwanzig Jahren, auf einen Tisch und hielt eine feurige Rede. Desmoulins galt wie auch sein Cousin Antoine Fouquier de Tinville allgemein als Versager. Alles, was er bisher angefasst hatte, war schiefgegangen. »Bürger«, schrie er, »ihr wisst, dass die Nation gefordert hat, Necker solle bleiben. Jetzt ist er entlassen, wie ein Hund davongejagt. Kann man euch noch unverschämter herausfordern?« Bevor seine Hetzrede im Tumult der Zuhörer unterging, schrie er noch: »Zu den Waffen! Zu den Waffen!«
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der verwegene Ruf durch das Labyrinth von engen Gassen und stinkenden Kloaken, die von Vieh, Karren und Kutschen von Adligen verstopft wurden. Bettler trugen die Neuigkeiten in das nächste Quartier, wo sie von Krämern aufgeschnappt und an die Kundschaft weitergegeben wurden. Wenig später brannten bereits vierzig der vierundfünfzig Zolltore. Eine nicht mehr kontrollierbare Masse stahl Zollware und fackelte die Steuerbescheinigungen und -register ab, die in den Amtsstuben aufbewahrt wurden. Auch die Mönche von Saint-Lazare und anderen Klöstern erhielten ungebetenen Besuch. Ihre Vorratskammern quollen über vor Weizen, Wein- und Butterfässern und Käse. Die Klosterbibliothek wurde geräumt, die Bücher auf der Strasse aufgetürmt und verbrannt. Schliesslich fackelte man gleich den ganzen Saal ab. Bei Anbruch der Dämmerung nahm der Aufstand immer gewalttätigere Formen an. Von Fackeln eskortiert, wälzte sich die aufgebrachte Menge wie ein glühender Lavastrom von Bäckerei zu Bäckerei, von Waffenschmiede zu Waffenschmiede und stahl Brot, Musketen, Pistolen, Piken und Degen. Die eine Hälfte von Paris war daran, die andere auszuplündern. Ein neues Gerücht verbreitete sich: Königliche Truppen seien unterwegs. Trommler zogen durch die Strassen und forderten die Menschen auf, sich in einer Bürgerwehr registrieren zu lassen. Als Erkennungszeichen sollten sie alle eine blaurote Kokarde tragen, die Farben von Paris. Die Sturmglocken läuteten.
Charles und Henri folgten den zornigen Menschen, die sich nun durch die Rue Saint-Honoré zwängten. In der Nähe der Place Vendôme kam ihnen das Königlich-deutsche Regiment des Prinzen von Lambesc entgegen. Sofort stürzte sich die Menge auf die Soldaten, während desertierte Gardisten dem Volk zu Hilfe eilten. Es fielen Schüsse, doch sie schüchterten die Menge nicht ein. Im Gegenteil, sie wurde dadurch noch mehr in Rage versetzt. Charles und Henri folgten den Aufständischen bis zum Hôtel des Invalides. Dort wollten sie Waffen erbeuten. Sie zerschlugen das Tor. Die Wachen leisteten keinen Widerstand. Wie Lemminge stürmten sie in die unterirdischen Waffenkammern, ohne zu bedenken, dass sie kaum wieder zurückkonnten, weil von der Strasse her weitere Menschen hereindrängten. Die Plünderer gerieten in Panik. Bajonette wurden gegen die eigenen Leute eingesetzt, um sich den Weg nach oben frei zu machen. Sie stachen auf alles ein, was ihnen auf den engen Wendeltreppen entgegenkam. Mit teils schweren Schnitt- und Stichwunden schleppten sich einige Dutzend Männer schreiend und stöhnend wieder aus der Kaserne hinaus, als kämen sie direkt aus der Hölle. Waffen wurden verteilt. Einige schleppten Kanonen aus dem Hof, darunter auch eine besonders kostbare, die mit Silber beschlagen war. Die aufgebrachte Menge schrie sich noch mehr in Rage und wurde zur Furie, zur Furie ohne Kopf, ohne Führung.
Charles und Henri beobachteten neugierig, wie ein Dutzend Männer die Silberkanone zur Strasse zog, als sich plötzlich eine Frau vor die Prunkwaffe stellte. Ihre Haut war dunkler als die Haut der Französinnen, und ihr schwarzes Haar reichte bis zur Taille. Sie schrie und gestikulierte wild und erinnerte Charles an Dan-Mali. Als sie näher kamen, sah Charles, dass sie es tatsächlich war. Er konnte es kaum glauben. Sie hatte immer noch diese feinen Gesichtszüge und diese geheimnisvolle Körpersprache, die Demut und Stärke signalisierte. Einer der Aufständischen packte sie an den Haaren und zog sie zu sich heran. Charles stürzte sich sofort auf den Mann und warf ihn mit Wucht zu Boden. Als der Kerl sich wieder erheben wollte, schlug ihm Charles die Faust senkrecht auf den Kopf. Er blieb auf den Knien und wankte benommen. Dan-Mali starrte ungläubig auf den Riesen, der ihr geholfen hatte. Sie stürzte sich auf Charles, umklammerte ihn und weinte. »Ich wusste, dass wir uns eines Tages wiedersehen. Kun kwaun.«
»Dan-Mali«, flüsterte Charles.
»Vorsicht, Vater!«, schrie Henri und stellte sich mutig den Männern in den Weg, die ihrem gestürzten Freund zu Hilfe eilen wollten. Henri baute sich schützend vor seinem Vater auf und grinste frech. So viel Selbstbewusstsein irritierte die Angreifer.
»Wollt ihr euch an einer wehrlosen Frau vergreifen?«, schrie Charles und schlug dem Nächstbesten die Faust ins Gesicht. Er sackte sofort zusammen und blieb am Boden liegen. Seine Nase war gebrochen, das Blut floss über sein Kinn. Seine Kameraden umringten nun Dan-Mali, Charles und Henri.
»Wer bist du?«, schrie einer theatralisch, so dass weitere Aufständische stehen blieben.
»Die Bastille ist dort drüben«, rief ihnen Charles entgegen. »Wenn ihr sie stürmen wollt, dann stürmt sie.« Er nahm Dan-Mali schützend in den Arm. Sie klammerte sich zitternd fest.