Die beiden Sansons irritierten die Aufständischen. Wie konnte man bloss den Mut aufbringen, sich gegen eine ganze Meute zu stellen? Ein Hüne drängte sich nach vorn. »Lasst ihn in Ruhe, ich kenne diesen Mann. Es bringt kein Glück, ihm etwas anzutun.« Es war der Schmied aus Versailles. Allmählich löste sich die Gruppe auf, und die Männer zogen mit ihrer erbeuteten Prunkkanone weiter.
Dan-Mali wollte sie erneut daran hindern, aber Charles hielt sie davon ab. »Die Kanone ist ein Geschenk meines Königs an deinen König. Niemand darf sie stehlen. Das wäre eine grosse Schande für Siam«, sagte Dan-Mali. Sie blickte schüchtern zu ihm auf, bis ein verlegenes Lächeln über ihre Lippen huschte. »Kun kwaun«, wiederholte sie.
»Kun kwaun?«, fragte Charles lächelnd.
Sie wischte sich Tränen aus den Augen.
»Du hast unsere Sprache gelernt«, sagte er anerkennend.
»Weil ich wusste, dass wir uns eines Tages wiedersehen.«
Henri folgte der aufgebrachten Menschenmenge. Charles wollte ihn nicht alleinlassen und sagte zu Dan-Mali: »Komm, wir gehen zur Bastille.« Er legte den Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich. Ein ihm bis dahin unbekanntes Gefühl von Wärme übermannte ihn. Er hatte sie wiedergefunden.
Die Bastille war ursprünglich eine Torburg im Osten von Paris. In diesen Tagen diente sie als gigantische Gefängnisfestung. Ihre acht Türme ragten wie steinerne Ungeheuer in den Himmel. Die Bastille war das verhasste Machtsymbol des Königs. Ihr Befehlshaber war Marquis Bernard-René de Launay. Unter ihm dienten rund achtzig Kriegsversehrte und gut dreissig Schweizergardisten. Charles zeigte auf die Dächer der Verkaufsstände, die entlang der wuchtigen Aussenmauern aufgestellt waren. Die Händler schien nicht zu stören, dass nun Hunderte von Aufständischen auf ihren Tischen und Waren herumtrampelten. Nein, sie halfen sogar einigen dabei, die Mauern zu erklimmen. Auf diese Weise gelangten die Männer in den ersten Vorhof und konnten die Zugbrücke herunterlassen. Launay verlor rasch die Nerven und liess mit Kanonen in die Menge feuern, die nun siegessicher in den Hof stürmte und sich an der nächsten Zugbrücke zu schaffen machte. Er richtete ein entsetzliches Blutbad an. Charles, Dan-Mali und Henri wollten sich etwas zurückziehen. Doch es war zu spät. Zwei desertierte Kompanien der Garde kamen ihnen entgegen und blockierten die Strasse. Die Deserteure brachten ihre Kanonen in Stellung. Plötzlich erschien Launay auf einem Turm und schwenkte ein weisses Taschentuch. Wenig später schob ein Schweizergardist eine Pike mit einem Schreiben des Kommandanten durch eine Schiessscharte. Launay bot die Kapitulation an und bat im Gegenzug um einen ungehinderten Abzug. Die Aufständischen willigten ein. Doch kaum hatte er die letzte Brücke der Bastille passiert, wurde er von allen Seiten mit Bajonetten traktiert. Launay schritt tapfer weiter, obwohl er bereits aus zahlreichen Wunden blutete. Plötzlich stiess er ein wildes Geheul aus und schlug mit den Fäusten und Füssen um sich. Er traf einen Koch in den Unterleib. Dieser schoss Launay nieder. Dann liess er sich einen Säbel reichen und begann dessen Kopf abzuschneiden. Doch die Waffe war zu stumpf, und er nahm schliesslich sein Messer und schnitt den Kopf ab, als wäre es ein Stück Wurst. Das Blut spritzte in einer wilden Fontäne gegen den Himmel. Der Koch nahm eine Pike und steckte Launays Kopf darauf. So zogen die Aufständischen weiter. Die Strasse war wieder frei.
Dan-Mali hielt die Augen geschlossen. Das war gut so, denn unterwegs trafen sie noch auf weitere aufgespiesste Köpfe und verstümmelte Leichen. Charles warf Henri einen Blick zu. Dieser schien ungerührt. Die Gräueltaten schockierten ihn wohl, aber sie schlugen weder auf sein Gemüt noch auf seinen Magen. Er sagte: »Du hattest recht, Vater, das ist kein Aufstand, das ist eine Revolution.«
Die Aufständischen hatten mit über hundert Gefangenen gerechnet, die sie aus den dunklen Verliesen im Keller der Bastille befreien würden. Aber die Zellen waren alle leer. Sie fanden lediglich eine Handvoll Gefangener in den oberen, lichtdurchfluteten, komfortablen Zellen: sieben Kleinkriminelle. Donatien Alphonse François de Sade war nicht mehr darunter. Er hatte wochenlang die Bevölkerung um Hilfe gebeten. »Helft uns, sie metzeln die Gefangenen nieder!«, hatte er ständig geschrien. Alles erfunden. Deshalb hatte man ihn wenige Tage zuvor von der Bastille in die Irrenanstalt Charenton-Saint-Maurice verlegt. Zurück blieb nur ein in winziger Schrift verfasstes Manuskript mit dem Titel Die hundertzwanzig Tage von Sodom.
Plötzlich sah Charles Blut an seiner linken Hand. Es stammte von Dan-Mali. Jemand hatte sie mit einer Pike erwischt. »Komm mit mir, ich werde die Wunde versorgen«, sagte er.
Dan-Mali schaute zu ihm hoch und fragte ungläubig: »Du kannst Schmerzen lindern?«
Charles war überrascht. Wusste sie denn nicht, dass er der Henker von Paris war? Hatte er sich damals möglicherweise doch getäuscht, als er sie bei Damiens’ Hinrichtung unter den Zuschauern wähnte?
Er kehrte mit Dan-Mali nach Hause zurück. Henri hatte bleiben wollen. Über den Hof gingen sie in die Pharmacie. Dan-Mali legte sich auf das Bett. Sie wirkte erschöpft.
»Du musst dein Hemd ausziehen«, sagte er.
Ohne Scham zog sie es aus. Die Pike hatte sich leicht unter ihre linke Brust gebohrt. Die Wunde war nicht tief. Charles desinfizierte sie und legte ihr einen sauberen Verband an. »Ich habe lange auf ein Wiedersehen gewartet«, sagte er leise und setzte sich neben sie.
Dan-Mali nickte, als wollte sie sagen, dass auch sie gewartet habe.
»Wir sind beide älter geworden, ich habe eine Frau und zwei Söhne, aber es verging kein Tag, an dem ich nicht an dich gedacht habe. Manchmal habe ich vor deiner Schule gewartet.«
»Ich weiss, ich musste damals nach Siam zurück. Aber ich bin wiedergekommen. Ich wollte dich wiedersehen. Das ist unser Karma.«
»Du sprichst unsere Sprache wirklich sehr gut, du hast Talent.« Charles lächelte.
»Ich kann mir alles merken. Wenn ich ein Wort einmal gehört habe, vergesse ich es nie wieder.«
»Wirst du nun eine Weile hier sein, oder kehrst du schon bald nach Siam zurück?«
»Ich werde meine Heimat vielleicht nie mehr sehen. Meine Familie will, dass ich hier in Paris bleibe und für sie sorge. Meine Familie ist sehr arm. Ohne die regelmässigen Zahlungen von Pater Gerbillon …« Dan-Mali stockte, dann liefen ihr Tränen über die Wangen. »Es ist schwer für mich. Ich möchte meine Familie wiedersehen, aber ich muss hierbleiben. Ich kam nach Paris, um zu lernen, und jetzt bin ich Pater Gerbillons Magd. Er liebt das siamesische Essen.«
»Soll ich mit ihm reden?«, fragte Charles. »Du könntest auch bei mir arbeiten. Wir trocknen Pflanzen und Heilkräuter und stellen daraus Medikamente her.«
Sie schüttelte den Kopf. »Sprich nicht mit Pater Gerbillon, das würde ihn erzürnen. Er darf nicht wissen, dass wir uns gesehen haben.«
Charles spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. Aber er wollte Dan-Mali nicht in Bedrängnis bringen. »Ich möchte dich nie mehr aus den Augen verlieren«, sagte er schliesslich.
Dan-Mali nickte. »Ich muss jetzt gehen. Pater Gerbillon hat es nicht gern, wenn ich zu lange wegbleibe.«
Sie erhob sich mit einem Blick des Bedauerns, senkte den Kopf und legte die Hände unter dem Kinn aneinander. Sie wäre gern noch eine Weile geblieben. Charles schaute ihr noch lange nach, selbst als sie den Hof längst verlassen hatte.
Von nun an war Charles ein Besessener. Seine Gedanken kreisten unaufhörlich um Dan-Mali. Er sah ihr Lächeln, ihre Augen und lächelte seinerseits gedankenverloren vor sich hin. Er wünschte sich, Dan-Mali jeden Tag zu sehen. Er wünschte, sie würde bei ihm wohnen. Der Wunsch war so stark, dass er gar nicht darüber nachdachte, wie das zu bewerkstelligen wäre.