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In Paris kündigte sich ein gewaltiges Erdbeben an. In einer einzigen Nachtsitzung strich die Nationalversammlung Steuerprivilegien, Jagd- und Fischereirechte des Adels, sein Recht auf Gerichtsbarkeit. Alles wurde abgeschafft, sogar der Kirchenzehnte. Europa stand unter Schock, denn wankte der König von Frankreich, würden alle anderen folgen.

Marquis de Lafayette war Vizepräsident der Nationalversammlung und führte gleichzeitig die Nationalgarde, die die Aufständischen in Paris im Zaun halten und den König beschützen sollte. Lafayette war ein erprobter Heerführer von einunddreissig Jahren, der an der Seite George Washingtons im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatte und beidseits des Atlantiks zum Helden geworden war. Er legte einen ersten Entwurf für die nach amerikanischem Vorbild niedergeschriebene Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vor. Kein Geringerer als Thomas Jefferson assistierte ihm. Die Zeitungen druckten mit Begeisterung die Erklärung ab. Charles schrieb sie Wort für Wort in sein Tagebuch. Es war ein wunderbarer Gedanke, dass alle Menschen Anrecht auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hatten.

Doch die Entmachtung von Adel und Klerus ging den Menschen nicht weit genug. Es genügte ihrer Meinung nach auch nicht, einen Baum blauweissrot zu schmücken und ihn Freiheitsbaum zu nennen. Sie wollten mehr. Es missfiel ihnen, dass nun alle Macht bei der Nationalversammlung lag und mitnichten bei den Aufständischen, die immer noch Läden und Schlösser abfackelten, plünderten und raubten und das Gerücht streuten, fremde Armeen marschierten in Richtung Frankreich, um den König zu retten. Bald formierte sich ein führungsloser Zug, der Richtung Versailles marschierte, die Wachen überrannte und bis in die Gemächer des Königs vordrang. Sie zwangen Louis XVI, der gerade mit seiner Familie speiste, die Trikolore an seinen Hut zu heften und ihnen nach Paris zu folgen. Sie wollten ihren König bei sich haben. Die Soldatenleichen im Schlosspark kümmerten niemanden. Es war, als hätte nun jeder das Recht, die königliche Garde ohne Strafe abzustechen. Ein Teil der Aufständischen wünschte nach wie vor den Tod aller Reichen und den Einzug ihrer Vermögen. Einige noch Radikalere forderten die Aufhebung des Privateigentums und die Todesstrafe für jedes ihrer Meinung nach unpatriotische Benehmen.

In einem Triumphzug von über dreissigtausend Menschen führten die Bürger von Paris ihren König in die Hauptstadt. Louis XVI war zum Untertan geworden, weil er stets gezaudert und keine Entscheidungen getroffen hatte. Doch während der König Würde und Macht verlor, gewann er die Zuneigung seines Volkes zurück. Die Niederlage habe ihn menschlich gemacht, schloss Charles den Eintrag ins Tagebuch. Ein Gedanke liess ihn nicht schlafen. Mitten in der Nacht stand er auf und schrieb einen Brief an Generalstaatsanwalt Roederer. Die Verabschiedung der Menschenrechte hatte ihm Mut gemacht. Mut zur Veränderung.

Sooft die Zeit es ihm erlaubte, besuchte Charles das Jesuitenkloster. Aber man liess ihn stets vor der Pforte warten und beschied ihm, Pater Gerbillon sei beim Gebet. Ein wahrlich frommer Mensch. Und Dan-Mali? Es hiess, sie könne während ihrer Arbeitszeit keine privaten Besuche empfangen. Und wann endete ihre Arbeitszeit? Das sei sehr unterschiedlich. Da müsse er Pater Gerbillon fragen, aber der sei wie schon erwähnt beim Gebet.

An einem regnerischen Freitagnachmittag klopfte jemand an die Haustür der Sansons. Charles dachte instinktiv an Dan-Mali und eilte zur Tür. Zu seiner grossen Enttäuschung stand ein Abgeordneter der Nationalversammlung vor ihm, der schüchterne Doktor Joseph-Ignace Guillotin. Sein Besuch ehrte Charles, stand doch Guillotin dem Leibarzt des Königs, Doktor Antoine Louis, sehr nahe. Als Mitglied einer königlichen Kommission untersuchte er den animalischen Magnetismus nach der Lehre von Franz Anton Mesmer. Als Gründungsmitglied der liberalen Freimaurerloge Grand Orient de France war er immer wieder Gegenstand wilder Gerüchte.

Charles bat ihn in seine Pharmacie und bot ihm etwas zu trinken an, doch der Gast lehnte irritiert ab. Guillotin setzte sich Charles gegenüber und wartete, bis er dessen ganze Aufmerksamkeit hatte. »Ich habe Ihr Schreiben an den Generalstaatsanwalt Roederer gelesen. Sie hätten das Schreiben auch an Fouquier adressieren sollen, er war darüber sehr erbost.«

»Fouquier?«, fragte Charles. »Antoine Fouquier de Tinville?«

»Ja«, erwiderte Guillotin, »auch er hat ein Amt als Staatsanwalt erworben. Er hat geerbt. Aber nennen Sie ihn um Gottes willen nicht mehr Fouquier de Tinville. Er nennt sich nur noch Antoine Fouquier, um seine adlige Herkunft zu verschleiern. Das Volk von Paris ist nicht mehr berechenbar. So ändern sich die Zeiten. Aber reden wir von Ihrem Schreiben, Monsieur. Es ist auf Interesse gestossen, denn auch wir beschäftigen uns mit der Humanisierung der Hinrichtung, ungeachtet der Herkunft des Verurteilten.«

»Das wird kaum realisierbar sein«, entgegnete Charles, »denn selbst wenn alle Delinquenten mit dem Schwert hingerichtet würden, wäre eine Hinrichtung nie wie die andere. Die meisten zittern, ihr Mund wird trocken, sie können nicht mehr sprechen und zappeln plötzlich, so dass es schwierig wird, einen sauberen Schnitt zu führen und den Kopf vom Rumpf zu trennen. Um dem Gesetze Genüge zu tun, muss der Scharfrichter sein Handwerk hervorragend beherrschen, und der Verurteilte muss unbedingt still halten.«

»Das ist etwas viel verlangt«, murmelte Guillotin höflich.

»Ein weiterer Punkt sind die Kosten. Nach jeder Exekution ist das Schwert unbrauchbar. Es ist unumgänglich, das schartig gewordene Schwert zu schärfen und zu schleifen. Manchmal brechen die Schwerter. Es kann böse Unfälle geben, wenn die Spitze der abgebrochenen Klinge ins Publikum schiesst oder den danebenstehenden Gehilfen trifft. Das ist eine sehr barbarische Hinrichtungsart. Sie müssen bedenken, wenn der erste Schwerthieb fehlschlägt, hängt der Kopf an einzelnen Sehnen noch am Rumpf, und ein Gehilfe muss diese mit einem Messer durchtrennen, bis sich der Kopf endlich löst. Das ist eine furchtbare Schlächterei. In meinem ersten Jahr als Henker brauchte ich einmal vier Versuche. Ich glaube, beim fünften Versuch hätte mich das Volk gelyncht.«

»Welche Hinrichtungsart ist denn die humanste? Welche entspricht den Idealen unserer Revolution? Welche Hinrichtungsart verkürzt das Leiden?«

»Das Beste wäre eine Maschine, die ein Fallbeil führt. Jeder Verbrecher würde genau die gleiche Hinrichtungsart erleiden. Der Scharfrichter löst nur noch den Stift, der das Beil blockiert.«

Guillotin lächelte kurz. Dabei zeigte er seine bräunlich verfärbten Zähne, die an einen morschen Gartenzaun erinnerten.

»Ich könnte ein derartiges Modell entwerfen«, sagte Charles, »Tobias Schmidt könnte mir dabei helfen.«

»Tun Sie das«, sagte Guillotin. »Ich werde mir erlauben, in zwei Wochen wieder bei Ihnen vorbeizuschauen.«

Am folgenden Tag schien sich Charles’ Ausdauer vor dem Jesuitenkloster gelohnt zu haben. Eine Kutsche fuhr vor, und Pater Gerbillon stieg aus. Er war alt geworden. Charles stürmte sofort auf ihn zu und rief seinen Namen.

»Monsieur de Paris!« Pater Gerbillon schmunzelte und zeigte auf den Freiheitsbaum vor dem Treppenaufgang. Er war mit blauen, weissen und roten Girlanden geschmückt und trug die rote Freiheitskappe. »Wissen Sie, was das da oben ist?«

»Nein«, antwortete Charles ungeduldig, »ich muss mit Ihnen reden.«

»Das ist eine phrygische Mütze. Irrtümlicherweise glauben die Revolutionäre, diese rote Mütze sei in der Antike von freigelassenen Sklaven getragen worden. Aber das ist falsch«, dozierte Gerbillon, während er mit Charles die Eingangshalle des Klosters betrat. »Die Leute haben keine Bildung und zetteln eine Revolution an. Das ist die Mütze des Sonnengottes Mithras! Das hat uns dieser Doktor Guillotin eingebrockt. Die Freimaurer glauben nicht an Gott, sie glauben an eine göttliche Kraft, an die Sonne als Ursprung allen Lebens auf unserem Planeten. Eigentlich liegen sie nicht ganz falsch. Denn alle Religionen haben Götter des Lichts. Selbst Buddha trägt eine Korona, einen Sonnenkranz. Aber mit der Sonne kann man kein Geld verdienen. Religion braucht ein Gesicht. Und ein Gesicht braucht eine Biographie. Marquis de Sade könnte Ihnen das bestätigen. Kennen Sie seine Bücher?«