»Ich wollte über Dan-Mali sprechen.«
Pater Gerbillon bat Charles in sein Büro. »Nun gut, ich langweile Sie. Womit kann ich Ihnen dienen, Monsieur de Paris?«, fragte er amüsiert.
»Ich suche jemanden, der mir in meiner Pharmacie behilflich sein könnte«, sagte Charles ohne Umschweife, »und da habe ich an Dan-Mali gedacht.«
»Oh«, erwiderte Pater Gerbillon süffisant, »der Henker hat sich verliebt? Irre ich mich, oder sind Sie verheiratet?«
»Wäre es möglich, dass Dan-Mali bei mir arbeitet?«
»Leider nein«, sagte Pater Gerbillon, »der König von Siam persönlich hat sie mir geschenkt. Sie ist alles, was mir geblieben ist, seit die Nationalversammlung beschlossen hat, alle Kirchengüter einzuziehen, um die Staatsschulden abzutragen. Jetzt drucken unsere Revolutionäre verzinsliche Staatsanleihen, nennen sie Assignaten und decken sie mit dem geraubten Kirchengut. Aber wer traut schon dem Papier? Oder wie sagte Voltaire: ›Jede Papierwährung findet eines Tages zu ihrem eigentlichen Wert: null.‹ Sie sehen, ich lese gerade Voltaire.«
»Ich würde Sie bezahlen«, sagte Charles mit ernster Stimme, »damit Sie eine andere Magd einstellen können.«
»Womit wollen Sie mich denn bezahlen? Mit Assignaten? Die haben schon ein Drittel ihres Wertes verloren. Am Anfang wurde die Wirtschaft durch das frische Papiergeld stimuliert, aber jetzt haben sie schon die Verzinsung der Assignaten gestrichen. Womit wollen Sie mich also bezahlen? Mit Gold? Der Besitz von Gold ist neuerdings verboten. Niemand darf sich vor der Inflation schützen.«
»Das Halten von Sklaven ist auch verboten, Pater Gerbillon!«
Gerbillon lachte laut auf. »Seit wann ist es verboten, der Kirche zu dienen? Und im Übrigen kümmern sich unsere Revolutionäre nicht um das weibliche Geschlecht. Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, davon sind die Frauen ausgeschlossen. Zugegeben, da hapert es ein wenig mit der Logik, aber so sind nun mal unsere Revolutionäre. Was halten Sie eigentlich von dieser Revolution?«
»Ich wünschte mir, unser König würde die Zeichen der Zeit erkennen und sich mit einer konstitutionellen Monarchie nach englischem Vorbild begnügen. So könnte er die Revolution überleben, als Galionsfigur am Bug unseres wunderbaren Schiffes.«
»Wissen Sie, was ich jetzt tue, Monsieur de Paris? Ich saufe meinen besten Wein. So tun es alle Brüder in den Klöstern Frankreichs. Wir beten nicht mehr, wir saufen.« Er betätigte die Glocke auf seinem Tisch. Kurz darauf öffnete sich die Tür, und Dan-Mali trat ein. »Mach mir einen Kaffee mit Zimt«, sagte er, ohne sie anzuschauen. Sein Blick ruhte immer noch auf Charles. »Aber warte, bleib hier, bis Monsieur de Paris unser Haus verlassen hat. Sonst kommt er noch auf die Idee, dich zu entführen.«
Dan-Mali suchte Charles’ Blick.
»Monsieur de Paris«, sagte Gerbillon und zeigte zur Tür, »es war eine Freude, Sie wiederzusehen. Aber noch grösser ist die Freude, wenn wir den Henker in diesen Gemäuern nicht mehr sehen.«
Charles schaute nochmals zu Dan-Mali und lächelte freundlich. Gerbillons Kichern ignorierte er. Er verliess das Kloster und verkroch sich in seiner Pharmacie. Jemand klopfte wenig später an die Tür. Marie-Anne schaute herein. »Ich werde morgen mit den Hunden meine Schwester besuchen. Sie braucht Hilfe. Vielleicht bleibe ich einige Wochen.«
Charles nickte. Marie-Anne blieb noch eine Weile in der Tür stehen, doch er schwieg. Als draussen im Flur ihre Schritte verstummt waren, griff Charles zu seinem Tagebuch. Paris erstickt in Papiergeld, schrieb er. Ich werde mit Papiergeld bezahlt. Meine Gehilfen wollen aber kein Papier mehr. Doch die Revolutionäre drucken immer mehr Papiergeld, um neue Schulden zu finanzieren. Dadurch verlieren die Assignaten noch mehr an Wert, und die Menschen beginnen, Lebensmittel zu horten. Die Preise galoppieren, kein Gesetz kann dies verhindern. Man kann aus dem Nichts kein Geld erschaffen. Papier bleibt Papier.
Als Charles Klavierspiel hörte, huschte ein Lächeln über seine Lippen. Er legte das Tagebuch beiseite und setzte sich im Wohnzimmer neben Gabriel auf die Bank. Gemeinsam spielten sie, und es bedurfte keiner weiteren Worte.
Am nächsten Tag ging Charles zu Tobias Schmidt in dessen Werkstatt. Niemand öffnete ihm auf sein Klopfen hin die Tür, obwohl aus dem Innern deutliches Hämmern zu vernehmen war. Also betrat Charles die alte Fabrikhalle und blieb stehen. Er begrüsste Schmidt mit lauter Stimme, worauf dieser zusammenzuckte. Er trug noch seinen Schlafrock. Die Wände der Werkstatt waren zugemüllt mit Holz- und Metallteilen, Gurten, Riemen, gusseisernen Dampfkesseln und gezahnten Holzrädern in allen Grössen. An den Wänden hingen überdimensionale Skizzen von seltsamen Maschinen, deren Zweck man nur erraten konnte.
Tobias Schmidt führte Charles sogleich in den hinteren Teil der Halle. »Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich daran arbeite, Nahrungsmittel zu konservieren. Wie kann man den Verwesungsprozess aufhalten, ohne dass dabei Geschmack oder Nährwert verlorengehen? Wer dafür eine Lösung findet …«
»… kann die Welt erobern, ich weiss.« Charles schmunzelte.
»Das ist so«, beharrte Schmidt. »Ich versuche, Gemüse und Obst zu kochen und dann in Blechdosen zu konservieren. Aber ich habe noch keine Lösung für das Verlöten der Dosen gefunden. Es ist auch nicht einfach, den optimalen Siedegrad für die einzelnen Lebensmittel herauszufinden. Das wird Jahre in Anspruch nehmen. Jahre!« Schmidt rührte in einem grossen Topf, in dem Äpfel in siedendem Wasser schwammen. »Ich brauche Tausende von Dosen für meine Experimente. Noch ist unklar, ob man Gemüse besser in Öl oder Essig, in Alkohol oder Zuckersirup konservieren sollte. Und das Ergebnis kann man frühestens nach zwei Jahren sehen.«
»Ich möchte mit Ihnen ein kleineres Projekt bereden«, sagte Charles.
»Ich langweile Sie doch nicht? Es tut mir leid, aber ich habe seit Wochen keinen Menschen mehr gesehen.« Schmidt schüttelte verwirrt den Kopf und schlurfte gebückt durch die Halle. Dann liess er sich auf eine Couch fallen. Der Überzug war gerissen. Weisse Hühnerfedern schauten hervor.
Charles folgte ihm. »Ich hatte Besuch von Doktor Guillotin.«
»Dieser Freimaurer. Ich sage Ihnen, die werden die Revolution anführen. Das kommt noch. Zuerst schaffen sie den Klerus ab, dann schaffen sie Gott ab. Denn jetzt muss alles rational erklärbar sein. Das ist die nächste Errungenschaft unserer Revolution. Robespierre fordert einen zivilreligiösen Kult der Vernunft. Er plant ein Fest des höchsten Wesens. Und wer ist das höchste Wesen? Die Natur! Behauptet Robespierre. Wir sollen die Natur anbeten wie unsere Vorfahren vor sechstausend Jahren. Bald werden wir bei Sonnenaufgang niederknien und der Sonne für ihr Licht danken.«
»Monsieur Schmidt«, insistierte Charles, »ich muss mit Ihnen über Guillotins Maschine sprechen.«
»Jaja, ich habe in der Zeitung von seiner Idee gelesen. Die humane Tötungsmaschine. Auch dafür hätte ich Ideen. Alle Welt will meine Ideen, doch keiner will bezahlen. Künstler wie ich gehen immer leer aus, und mit meinen Klavieren verdiene ich gerade genug, um neue Blechdosen zu kaufen.«
»Wenn Sie eine Maschine erfinden können, die alle Menschen auf die gleiche Art und Weise tötet, dann werden Sie ein reicher Mann werden. Hätten Sie Lust, eine Skizze anzufertigen, die ein Laie versteht?«
»Jaja«, sagte Schmidt gereizt, »ich habe da Ideen, und es wäre grossartig, wenn man mich beim Hof vorsprechen liesse. Dann könnte ich dem König darlegen, wie man Nahrungsmittel haltbar macht. Er könnte mit seinen Armeen bis nach Russland marschieren, bis nach Afrika oder Indien. Seine Truppen hätten immer genug Nahrung. Er führt ja so gerne Krieg.«