»Monsieur Schmidt, es geht jetzt ausschliesslich um diese Tötungsmaschine. Wenn Ihr Entwurf angenommen wird, könnten Sie möglicherweise für jedes Departement eine solche Maschine bauen.«
»Oh, das wäre das Geschäft meines Lebens! Ich habe so viele Ideen für neue Maschinen, aber nicht das Geld für das Material. Ich wäre Ihnen ewig verbunden, Monsieur, mehr noch, ich würde Sie beteiligen.«
Charles lächelte. »Ihre Freundschaft ist mir Lohn genug.«
»Und wie geht’s Gabriel?«, fragte Schmidt.
»Er macht keine grossen Fortschritte mehr, aber es wird auch nicht schlechter. Da er mehr läuft, wird die Muskulatur kräftiger und sein Gang stabiler.«
Schmidt zog an einer Kordel, die von der Decke hinunterhing. In der Ferne hörte man das Gebimmel einer Glocke. Die Kordel führte der Decke entlang zur Wand und anschliessend durch ein Bohrloch in einen anderen Raum. Wenig später erschien eine korpulente Frau um die sechzig. Sie wackelte beim Laufen hin und her. Charles nahm sogleich wahr, dass ihre Hüften lädiert waren.
»Bringen Sie uns Rotwein«, sagte Schmidt.
»Aber Sie haben seit gestern früh noch nichts gegessen.«
»Sind Sie meine Ärztin?«, herrschte Schmidt sie an. »Ich habe eine Magd angestellt. Und dann brauche ich ein Stück Brot. Und zwar schnell. Ich habe mir den Magen verdorben.«
»Schon wieder?«, seufzte die Frau.
Charles kaufte sich ein neues Tagebuch. Seit die Schulhefte vollgeschrieben waren, hatte er immer Bücher für seine Einträge benutzt. Es gab viele Delinquenten zu verzeichnen: einen Knopfmacher, einen Pferdehändler, einen Kammerdiener, einen Schlosser … Er füllte zwei Seiten mit Namen. Das war am Montag. Am Dienstag waren es schon drei. Die vielen Todesurteile sollten abschreckend wirken. Aber sie waren wirkungslos. Zu gross war das Elend in den Strassen von Paris und auf dem Land. Die Armut schuf ein Heer von Kriminellen. Die Zahl der Verurteilten erhöhte sich sprunghaft. Charles vollstreckte die Urteile mit stoischer Miene, doch die Menschen, die es hinzurichten galt, waren ihm keineswegs gleichgültig. Im Gegenteil, er hatte Mitleid mit ihnen. Er verstand nicht, wieso das Publikum, das dichtgedrängt um das Schafott herumstand, so selten Mitgefühl zeigte. Sie teilten doch alle das gleiche Leid. Ohne Henri hätte Charles wohl alles hingeschmissen. Aber er dachte, wenn sein Sohn tatsächlich das Amt antreten wollte, dann sollte er es ihm geordnet übergeben und so lange auf dem Schafott bleiben, bis der Generalstaatsanwalt dem Wechsel zustimmte.
Als sie eines Tages von der Arbeit nach Hause kamen, sassen Tobias Schmidt und Gabriel im Wohnzimmer und spielten zusammen Klavier. »Er ist ein grosses Talent, das nenne ich Begabung«, sagte Schmidt anerkennend.
Charles hörte es gern. Er begrüsste Gabriel mit einem väterlichen Kuss auf die Stirn und bat Schmidt in die Pharmacie. Dort zog Schmidt ein Buch aus seiner Tasche und klappte es auf. »Schauen Sie, Monsieur de Paris, das ist ein Stich von Achille Bocchi aus dem Jahre 1555. Er zeigt ein Holzgerüst aus zwei parallel verlaufenden senkrechten Holzpfeilern. Zwischen den eingekerbten Pfeilern hängt ein scharfes Beil, das mit einem Seil festgehalten und am Herunterfallen gehindert wird. Löst man das freie Ende des Seiles, saust das Fallbeil zwischen den beiden Pfeilern hinunter und enthauptet den Unglücklichen, dessen Nacken genau an der Stelle liegt, auf die das Fallbeil trifft.«
Charles schaute sich das Bild genau an. Nach einer Weile sagte er: »Das wird nicht genügen. Das Problem ist, dass die Verurteilten angesichts des nahen Todes nicht still halten. Auf den Knien verliert man rasch den Halt. Man muss deshalb zwingend den Körper befestigen, damit ein sauberer Schnitt möglich ist. Sonst endet das in einer wüsten Schlächterei, an der auch das Publikum keine Freude hat.« Schmidt nickte. Charles sah ihm an, dass er bereits mit einer neuen Lösung beschäftigt war, und fügte an: »Es eilt! Wenn wir es nicht tun, werden die Doktoren Louis und Guillotin etwas kreieren, aber ich bin derjenige, der oben auf dem Podest stehen wird und verantwortlich ist, wenn es nicht funktioniert. Ihnen vertraue ich, Monsieur Schmidt.«
Schmidt lächelte. »In Ordnung. Ich werde daran arbeiten. Und zwar noch diese Nacht. Aber ganz ohne Musik werden wir den Abend nicht beenden.« Er setzte sich mit Gabriel ans Klavier. Beim dritten Stück hörte Schmidt abrupt auf. »Ich hab die Lösung! Lassen Sie mich nach Hause gehen. Ich muss eine Skizze anfertigen.« Und er eilte auf die Strasse hinaus.
Charles setzte sich mit Henri in die Pharmacie. Sie tranken Wein und sprachen über die neue Maschine. Charles erklärte die Details.
»Sie wird unsere Arbeit erleichtern«, sagte Henri, »aber es wird immer noch jemanden brauchen, der durch seine Anwesenheit die Rechtmässigkeit bezeugt und die Maschine bedient.«
»Ja, aber sie bringt nicht mehr Gerechtigkeit. Du kannst zwar alle auf die gleiche Art und Weise hinrichten, aber vielleicht richtest du einen zu Unrecht. Vielleicht ist er unschuldig, vielleicht ist das Urteil gekauft. Wenn du jemanden tötest, ist es irreversibel.«
»Dafür sind wir nicht zuständig, Vater.«
»Mag sein, Henri, mag auch nicht sein. Jede Rechtsprechung unterliegt dem Zeitgeist. Und jedes Land hat seine eigenen Gesetze. Wir wenden das Recht an, aber üben nicht Gerechtigkeit.« Ganz unvermittelt fragte er: »Erinnerst du dich an die Frau aus dem Königreich Siam?«
»Das Mädchen mit der Silberkanone?«
»Sie ist kein Mädchen mehr, Henri. In Siam altern die Menschen nicht wie wir. Sie ernähren sich anders. Sie werden nicht so fett, und ihre Haut bleibt länger geschmeidig und jung. Sie heisst Dan-Mali, ich möchte sie wiedersehen.«
Henri schaute seinen Vater lange an und sagte dann: »Hast du dich verliebt?«
»Henri«, sagte Charles beinahe beschwörend, »für die Liebe gibt es kein Alter. Liebe kannte ich bisher nur vom Hörensagen. Ich habe mein ganzes Leben getan, was mir andere vorschrieben, was die Familie vorschrieb, was die Gesellschaft vorschrieb, und jetzt, da die Revolution ausgebrochen ist, ist auch in mir der Drang nach Freiheit entfacht. Auch ich möchte ein neues Leben.«
»Weiss Mutter davon?«
»Nein, Henri, und es ist zwecklos, mit ihr zu reden.«
Marie-Anne war bereits seit einigen Wochen bei ihrer Schwester und half bei der Pflege ihres todkranken Schwagers. Niemand wusste, woran genau er litt. Er konnte kaum noch atmen. Mit der Zeit blieb ihm schon die Luft weg, wenn er sich im Bett aufrichtete. Er erstickte jämmerlich. Jeder Welpe, den man in der Pferdetränke ersäuft, stirbt schneller und einfacher.
Als Marie-Anne nach Paris zurückkam, um Kleider für die Beerdigung zu holen, fragte Charles, wann das Begräbnis stattfinde.
»Du bist nicht eingeladen, Charles. Sie wollen keinen Henker zu der Beerdigung.«
Er entgegnete nichts. Er half ihr, die paar Sachen aufs Pferd zu packen; sie liess es widerwillig zu. Als sie am Ende der Strasse verschwunden war, fühlte sich Charles erleichtert. So friedvoll könnte das Leben sein, dachte er und ging in die Pharmacie, um Lorbeerblätter zu zerstampfen. Er ertappte sich beim Gedanken, dass er insgeheim wünschte, Dan-Mali würde bei ihrem nächsten Ausflug auf den Markt einen Abstecher zu ihm unternehmen. Aber wahrscheinlich hatte sie Angst, dass ihre Familie in Siam die regelmässige Unterstützung durch Pater Gerbillon verlor. Charles hätte diesen Part gern übernommen, doch wie sollte er ihr das mitteilen? Er war in Gedanken immer bei ihr. Selbst wenn er nur in Tagträumen ihr Bild vor seinen Augen auferstehen liess, fühlte er sich ruhig und geborgen, ein Gefühl, das er seit frühester Kindheit nie mehr empfunden hatte. Obwohl Dan-Mali nichts für ihn tun konnte, schenkte sie ihm doch alles, wonach er sich sehnte. Sie musste nur da sein. Mehr nicht.
Eines Tages, Charles kam gerade vom Hof zurück, wo er sich am Brunnen gewaschen hatte, stand sie in der Pharmacie. Neugierig musterte sie die kleinen Gefässe mit den Salben.