»Wir haben eine Bekanntmachung zu verlesen«, sagte der Kommandant kurz angebunden und ging an Jouenne vorbei. Er entrollte ein Pergament und las der Menge die Botschaft vor. Die Dragoner suchten Deserteure. Einige waren bereits in der Neuen Welt geflohen, andere erst als sie französischen Boden erreicht hatten. Einigen wurde unterstellt, sie hätten in der Neuen Welt die Regimentskasse gestohlen und zwei Wachsoldaten getötet. »Für Hinweise, die zur Festsetzung der Gesuchten führen, hat der Marquis de La Boissière persönlich ein Kopfgeld von zwei Louisdor ausgesetzt.«
Der Kommandant rollte das Pergament wieder zusammen und warf dem vermummten Gesellen einen prüfenden Blick zu. Dann sah er Jouenne fragend an.
»Das ist mein Sohn«, sagte dieser mit fester Stimme.
Der Kommandant verliess das Schafott und schwang sich wieder auf sein Pferd. Er gab den anderen Dragonern ein Zeichen, ihm zu folgen. Langsam bahnten sie sich einen Weg durch die Menge und verliessen den Platz.
Schweigend sassen Jouenne und Jean-Baptiste auf der Holzbank des Fuhrwagens. Als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, fragte Jouenne: »Hast du die Regimentskasse gestohlen?«
»Nein«, antwortete Jean-Baptiste. »Mag sein, dass das jemand getan hat am Tag, als ich heimlich die Armee verliess. Aber ich war’s nicht.«
»Und woher hast du die Goldmünzen, die ich in deiner Satteltasche gefunden habe?«
»Sie meinen das Gold, das Sie mir gestohlen haben? Ich hab’s beim Kartenspiel gewonnen.«
»Darauf wär ich nicht gekommen«, brummte Jouenne. Er glaubte ihm kein Wort. »Und wieso hast du die Armee verlassen?« Als Jean-Baptiste nicht antwortete, warf ihm Jouenne einen strengen Blick zu.
»Ich war in der Neuen Welt stationiert. Am Bœuf-Fluss. Gemeinsam mit den französischen Missionaren versuchten wir, den Handel der englischen Kaufleute mit den Indianern zu unterbinden. Wir nahmen die Indianer gefangen und verschifften sie als Sklaven auf unsere Plantagen in der Karibik. Schliesslich erhielten wir den Befehl, sie wie Kaninchen abzuschiessen. Es waren einfach zu viele. Dann kamen die Engländer und verbündeten sich mit einigen Stämmen. Wir kämpften gegen die Chickasaw, gegen die Natchez. Die Engländer schickten neue Schiffe mit Soldaten und bauten Forts. Wir bezahlten andere Stämme, um sie abzufackeln. Doch dann wurden viele krank. Sie starben wie die Fliegen. Kopfgeldjäger zogen ihnen die Kopfhaut ab. Für einen englischen Skalp zahlten die Geistlichen hundert Livre. Es war Sodom und Gomorrha. Unsere Regimenter wurden grausam dezimiert, und die Überlebenden wurden zu Kopfgeldjägern oder Goldschürfern, oder sie desertierten und kehrten nach Frankreich zurück. Ich hatte zu viele Gräuel gesehen.«
»Dann hast du die Vorstellung heute gut vertragen?« Jouenne grinste.
»In der Neuen Welt feuerst du Gewehrsalven auf fliehende Indianer ab, zündest ihre Dörfer an, aber du weisst nie, ob du einen tödlich verwundest hast, und du siehst nie ein brennendes Kind. Aber auf Ihrem Schafott, Meister Jouenne, riechst du sogar die Pisse, wenn das Genick bricht.«
»Es gibt noch einen Unterschied«, sagte Jouenne. »In der Neuen Welt kriegt ihr fürs Töten Auszeichnungen, Orden, aber als Henker wirst du verschmäht und geächtet, obwohl du nur ausführst, was dir das Gericht befohlen hat. Wie kann man nur einen Menschen ächten, der genau das tut, was ihm die Gesellschaft abverlangt? Sie wollen die Raubmörder hängen sehen, aber sie wollen nicht selbst Hand anlegen.«
»Danke«, sagte Jean-Baptiste nach einer Weile.
»Ich hab es nicht für dich getan«, log Jouenne, »aber wenn sie meinen Gesellen hängen, hab ich keinen mehr. Und ich denke, dass mein Geselle nun endgültig eingesehen hat, dass er nur bei mir in Sicherheit ist, bis der Marquis de La Boissière sein Regiment auflöst.«
»Ich werde bei Ihnen bleiben und die schwarze Kapuze tragen.«
Jouenne lachte. »Den Leuten hat es gefallen. Die haben hier sonst nichts. Für ein Stück Brot arbeiten sie mehrere Tage. Die einzige Zerstreuung sind die Hinrichtungen. Deshalb sind die Erwartungen hoch.«
Jean-Baptiste nickte. Er spürte immer noch den Schrecken in seinen Gliedern wegen der Dragoner. »Wieso nehmen wir den Leichnam nicht mit?«, fragte er dann.
»So will es die Stadtverwaltung, es soll der Abschreckung dienen. Erst wenn der Körper verwest, hängen wir ihn ab und begraben ihn. Aber nicht auf dem Friedhof.«
Jean-Baptiste überlegte, ob es nicht doch einen Weg gab, dem Schicksal zu entrinnen. Er könnte doch jetzt einfach vom Fuhrwagen hinunterspringen. Doch dann kamen ihm wieder die Dragoner in den Sinn, und er hatte plötzlich den Eindruck, als füge sich alles zu einem Ganzen. Er konnte davonlaufen, sich verstecken, alles Mögliche versuchen, am Ende landete er immer auf dem Schafott. Er hatte keine Wahl. Dieser furchtbare Gedanke betrübte ihn, und er starrte wie benommen auf den Feldweg, der unter den Hufen der Pferde verschwand.
»Wenn wir zu Hause sind, zeige ich dir, wie man die Länge des Seils berechnet. Das ist Mathematik.«
Jean-Baptiste schwieg.
Mehr als für die Sektion der Gehenkten interessierte sich Jean-Baptiste Sanson für die Pharmazie, für die Pflanzenheilkunde und die Herstellung von Arzneimitteln. Vielleicht lag es daran, dass Joséphine sich meistens in der Pharmacie aufhielt. Sie wusste einiges über die Heilkraft der Pflanzen und gab ihr Wissen bereitwillig an Jean-Baptiste weiter. Manchmal gingen sie zusammen in den Wald und pflückten Kräuter. Joséphine zeigte ihm, wo man die Pflanzen suchen musste, woran man sie erkannte und wie man sie aufzubewahren hatte, damit sie ihre Wirkung nicht verloren. Er war gern mit ihr zusammen. Er mochte ihre stille Art. Sie gab ihm Ruhe, Frieden. Es machte ihm auch nichts aus, dass sie nichts über ihre Vergangenheit erzählte. Er hakte nie nach. Vielleicht fürchtete er, seinen Frieden erneut zu verlieren. Manchmal hörte er gar nicht richtig zu. Er lauschte der Melodie ihrer Stimme, ohne die Worte aufzunehmen.
Die langen Winterabende verbrachten Jouenne, Joséphine und Jean-Baptiste am Kaminfeuer beim Kartenspiel. Es waren schöne Abende, bei denen auch Wein getrunken wurde. Jean-Baptiste fiel auf, dass Jouenne und Joséphine ein sehr vertrautes Verhältnis hatten. Aber er wurde nicht schlau daraus. War es eine Art väterlicher Fürsorge – für eine Magd? Oder war sie gar seine Mätresse? Er machte sich darüber nicht allzu viele Gedanken, denn er wartete nur darauf, dass der Marquis de La Boissière endlich sein Regiment auflöste. Und manchmal überkam ihn der Drang, einfach zu verschwinden, doch irgendetwas in seinem Innern sperrte sich dagegen. Er fürchtete, gegen eine höhere Regel zu verstossen. Er hatte sein Schicksal anzunehmen. Und da gab es noch Joséphine. Immer wieder Joséphine. Er wusste nicht einmal, ob sie ihn mochte. Vielleicht war ihr das Dasein als Magd lieber als eine ungewisse Zukunft mit einem Deserteur. Und es war gar nicht so sicher, ob sie jemals Meister Jouenne verlassen würde. Sie gehörte zu jenen Menschen, die ihr eigenes Leben opferten, um anderen zu dienen. Sie verzichten auf ein eigenes Leben und können es nicht erklären. Offenbar gab es auch den Fluch, Gutes zu tun.
»Die Karten«, unterbrach Jouenne seine Gedanken. Jean-Baptiste realisierte, dass er seit einer Ewigkeit die Karten mischte. Er lächelte verlegen und teilte sie aus. Sie spielten stets bis gegen Mitternacht. Dann prostete man sich ein letztes Mal zu, und der junge Mann kehrte in die Scheune zurück und schlief rasch ein.
Im Frühjahr erhielt Jouenne aus dem Pays d’Auge ein Angebot für eine Hinrichtung mit dem Schwert. Er war sehr stolz darauf. Insgeheim war er beseelt von dem Gedanken, ein grosser Henker zu sein, der wie ein berühmter Schauspieler Gastauftritte in anderen Städten und Regionen absolvierte. Gegen gutes Geld, versteht sich. Da er Joséphine nicht allein in diesem angeblich verwunschenen Gehöft zurücklassen wollte, hatte er der Stadtverwaltung mitgeteilt, dass er an Ort und Stelle Henkersknechte verpflichten und die Gerätschaften des schwer erkrankten Henkers des Pays d’Auge ausleihen würde. So konnte Jean-Baptiste bei Joséphine auf dem Hof bleiben.