»Wie bist du reingekommen?«, fragte Charles verblüfft.
»Durch die Tür.« Sie lächelte verschmitzt.
Er ging langsam auf sie zu. Mit leuchtenden Augen sah sie ihn an und senkte dann plötzlich beschämt den Blick. Er wollte ihr jede Peinlichkeit ersparen und zeigte ihr die kleinen Tongefässe. »Das sind Eibenwurzeln. Hier haben wir Thymian, Zitronenkraut, Dill. Das hier ist verkohltes Schilfrohr für abgestorbenes Körpergewebe. Die Pflanzen und Heilkräuter wachsen in meinem Garten. Ich zerstampfe sie und mische sie mit Ölen und Fetten, so dass eine Salbe oder Tinktur entsteht. Du könntest mir dabei helfen.«
Plötzlich umarmte sie Charles, so fest sie konnte. »Kun kwaun«, sagte sie, »ich habe Schmerzen.« Sie hatte Tränen in den Augen.
Charles bat sie auf das Bett und untersuchte sie. Während sie ihr Hemd auszog, schloss sie die Augen. Die Wunde hatte sich leicht entzündet. Charles desinfizierte sie und strich eine wundheilende Salbe darüber. Er roch das süssliche Öl, mit dem sie ihren ganzen Körper eingerieben hatte. Sie setzte sich auf die Bettkante und zog ihn zu sich heran. Sie wollte, dass er sich neben sie setzt, ergriff seine Hand und legte sie in ihren Schoss. Sie sah ihn lächelnd an. »So ist gut.« Beide schauten auf den Hof hinaus.
»Was bedeutet kun kwaun?«, fragte Charles.
»Guter Mann.« Nach einer Weile sagte sie: »Pater Gerbillon wird wieder nach Siam reisen. Er muss meinem König astronomische Instrumente bringen. Er wurde zum Mathematiker des Königs ernannt und wird in Siam den Sternenhimmel beobachten, um neue Seekarten zu erstellen. Und eines Tages wird dein Land diese Seekarten benutzen und mit vielen Schiffen in Siam anlegen, um das Königreich zu erobern. Unser König denkt, dass die Mathematiker deines Königs seine Freunde sind. Aber Pater Gerbillon interessiert sich nicht für den Sternenhimmel. Er liebt junge Buben und Mädchen. Deshalb reist er nach Siam. Er will mich wieder mitnehmen. Aber ich will nicht. Ich hasse ihn.« Sie warf sich in seine Arme und heulte wie ein Kind.
Charles küsste ihre Stirn. »Du bist nicht allein auf der Welt, Dan-Mali …«
Sie liess ihn nicht weitersprechen. »Ich komme bald wieder«, sagte sie und erhob sich abrupt. Dann rannte sie hinaus.
9
Charles begab sich frühmorgens in die Conciergerie, das staatliche Untersuchungsgefängnis, um zu sehen, ob für den Nachmittag mit Exekutionen zu rechnen war. Er stieg die Wendeltreppe links vom Hof hoch und klopfte an die Tür des neuen Staatsanwalts. Er war gespannt auf das Wiedersehen mit Antoine.
»Das kann noch dauern«, sagte jemand hinter ihm. Charles drehte sich um. Der Journalist Gorsas trat aus einer fensterlosen Mauernische hervor. »Es ist niemand drinnen, aber er liebt es, die Leute warten zu lassen.«
»Wieso sind Sie denn hier?«, fragte Charles und musterte Gorsas misstrauisch.
»Er hat mich herzitiert. Wahrscheinlich gefallen ihm meine Artikel nicht. Er wird mir sagen, was ich in Zukunft schreiben soll, um der Pressefreiheit Genüge zu tun. Ich werde schreiben, dass er ein kleines Vermögen geerbt und damit das Amt eines Staatsanwaltes gekauft hat. Den Rest hat er für Weiber ausgegeben und versoffen. Als er wieder nüchtern war, hat er seine reiche Cousine geschwängert, gleich fünfmal, und seit seinem privaten Bankrott ist er ein glühender Hasser der Reichen.«
»Und das wollen Sie schreiben?«, fragte Charles ungläubig.
»Wer die Pressefreiheit ernst nimmt, landet bei Ihnen auf dem Schafott, Monsieur de Paris. Wissen Sie, viele Revolutionäre machen aus ihrem privaten Scheitern eine Ideologie. Doch einem wie Antoine Fouquier hätte man eine ganze Hühnerfarm schenken können, und kein einziges Huhn hätte ein Ei gelegt. Wussten Sie, dass der unbestechliche Camille Desmoulins sein Cousin ist? Er hat ihm den Chefposten der Anklage verschafft.«
Charles klopfte erneut an die Tür.
»Ja?«, schrie Antoine Fouquier. Charles betrat das Büro. Fouquier streckte ihm gleich die Handfläche entgegen, um ihm klarzumachen, dass er zu warten hatte. Er war gerade in eine Diskussion mit Roederer verwickelt. Fouquier hatte sich stark verändert. Die Verbitterung über seine Niederlagen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Es war kein schönes Gesicht. Er ähnelte einem Raubvogel, ausgemergelt, die Nase spitz, lang und gekrümmt. Die Lippen nicht breiter als ein Strich, als würde sich selbst dort der Geiz manifestieren. Er trug Koteletten, die so schmal geschnitten waren, dass sie sein Gesicht in die Länge zogen. Antoine Fouquier war gefürchtet. Denn stattete man Versager mit Macht aus, waren sie meist gnadenlos und grausam. Er schrie Roederer ins Gesicht: »Wenn Sie dieses Gesindel nicht ausmerzen wollen, was wollen Sie denn sonst mit diesem Abschaum machen? Wollen Sie die noch fünfzig Jahre auf Staatskosten in unseren Gefängnissen verköstigen? Manch rechtschaffener Mensch in Paris lebt weniger komfortabel und begnügt sich mit Brot und Kohlsuppe.«
»Wir schicken sie in unsere Überseekolonien. Wieso wollen Sie einen Mann töten, der noch vierzig Jahre in unseren Minen arbeiten kann?« Roederer schaute zu Charles hinüber und gab Fouquier zu verstehen, dass er in Anwesenheit dieses Mannes nicht weiterdiskutieren wollte.
Wie Roederer und Fouquier waren auch die meisten Abgeordneten in der Nationalversammlung Juristen. Es war unglaublich, wie viele in der Provinz gescheiterte Anwälte nach Paris gekommen waren und die Gunst der Stunde nutzten, um sich der Führungselite der Revolutionäre anzubiedern. Natürlich wollten sie alle Führer sein, keiner wollte Bürger sein. Und alle benutzten die Politik als Steigbügel für Macht und Geld. Den meisten waren die Ideale der Revolution völlig egal. Sie sonnten sich im Gefühl, wichtig zu sein, und genossen das Leben in Saus und Braus. Das war ihre ganz persönliche Revolution.
»Ist das der Henker?«, fragte Roederer abschätzig. Fouquier nickte und schaute grinsend zu Charles, er genoss die Situation sichtlich. Roederer hingegen gehörte zu den Menschen, die nie lächelten, die keine Freundlichkeiten verschenkten und ohne Mimik durchs Leben gingen. Stets blieb das Gesicht gleich, egal ob eine Nachricht erfreulich oder betrüblich war. Sein Blick aber schien zu sagen: Was willst du von mir, du kleines Stück Scheisse? Das konnte er wunderbar vermitteln. Die Lippen hatte er stets so fest aufeinandergepresst, als hätte ihn gerade jemand beleidigt oder als würde ihm jemand in die Parade fahren. Er wirkte angespannt, verbissen.
Fouquier wandte sich an Charles. »Wir haben keine Arbeit für dich, Bürger Sanson. Und übrigens: Wenn du das nächste Mal einen Brief an mich adressierst, schreib gefälligst meinen Namen richtig. Das nächste Mal könnte ich es als Affront verstehen. Nein, das nächste Mal werde ich es sogar bestimmt als Affront verstehen.« Er schaute Charles streng an und fügte dann hinzu: »In Zukunft wirst du in Assignaten bezahlt. Wir haben ja so viel davon.« Er lachte schallend und wies zur Tür. »Du kannst gehen. Wir können schliesslich nicht die ganze Stadt hinrichten.«
Charles wollte noch etwas sagen, irgendwie an alte Zeiten anknüpfen, aber er sah, dass Fouquier mit Roederer allein sein wollte und er keinen Wert darauf legte, dass dieser erfuhr, dass Charles und er dieselbe Schule in Rouen besucht hatten. Beim Hinausgehen hörte er, wie Roederer sagte, dass die Henker Frankreichs wohl bald arbeitslos würden.
Draussen wartete noch immer Gorsas.
»Sie können gern schreiben, dass es heute keine Vollstreckungen gibt«, sagte Charles.
Gorsas lachte. »Wenn Sie schon mal da sind, könnten Sie mir ein paar Fragen beantworten. Sind Sie für oder gegen die Todesstrafe?«
»Ich werde nicht bezahlt, um eine Meinung zu haben.«
»Meine Leser interessiert das«, sagte Gorsas mit gespielt gequälter Stimme. »Was denkt Monsieur de Paris? Das wollen sie wissen. Kein Henker hat einen derart furchteinflössenden Auftritt wie Sie. Sie sind eine Institution, also lassen Sie uns zusammenarbeiten. Vielleicht brauchen Sie einmal meine Hilfe.«