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»Bedaure«, sagte Charles, »ich verrichte mein Amt gemäss den Vorschriften, aber ansonsten habe ich kein Interesse an Öffentlichkeit. Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses.«

»Dann schlagen Sie meine Freundschaft aus«, sagte Gorsas theatralisch.

»Nein, Monsieur, ich will Sie nicht vor den Kopf stossen.«

»O doch, o doch. Sie refüsieren meine Freundschaft.« Als Charles die Wendeltreppe hinunterstieg, rief er ihm nach: »Vielleicht stehen Sie bald mehr im Mittelpunkt, als Ihnen lieb ist.«

Charles ritt nicht auf direktem Weg nach Hause. Er machte einen grossen Umweg durch die Wälder von Montmartre. Dann suchte er das Ufer der Seine auf und setzte sich an die Böschung. Er war nun zweiundfünfzig Jahre alt, hatte zwei Söhne und war mit einer Frau verheiratet, die ihm mittlerweile fremd war. Er machte sich Sorgen um seine Zukunft, vor allem aber um die seiner Söhne. Er versuchte sich Mut zu machen. Würde die Todesstrafe tatsächlich abgeschafft, würde er sicher nicht gleich arbeitslos, dachte er. Man würde immer noch einen Henker und seine Gehilfen brauchen, um Straftäter mit dem Brandeisen zu markieren oder um Diebe an den Schandpfahl zu fesseln. Jemand musste in den frühen Morgenstunden in der Conciergerie die Urteile abholen und diese am Abend vollstrecken. Arbeitslos würde er also nicht. Aber er würde weniger verdienen und zudem in Assignaten bezahlt. Das Leben würde härter. Charles beschloss, den kleinen Schuppen, den er nie benutzte, jungen Leuten zu vermieten. Sie hatten ihn vor einiger Zeit angefragt, ob sie dort ihre Druckerpresse installieren und Flugblätter drucken könnten. Flugblätter waren gross in Mode. Man konnte damit ein bisschen Geld verdienen.

Tobias Schmidt hatte eine neue Skizze angefertigt, die er stolz präsentierte. »Ich habe versucht, eine sehr einfache Maschine zu bauen«, erklärte er, »die jeder Trottel bedienen kann. Denn eines Tages wird ein Trottel sie bedienen. Sie, Monsieur de Paris, sind der letzte grosse Henker.«

»Wir müssen es ausprobieren«, sagte Charles unbeeindruckt. »Es gibt Menschen, die haben einen solchen Stiernacken, dass selbst ein Beil keine saubere Arbeit leistet.«

»Es ist eine Frage des Gewichts und der Fallhöhe. Wenn das heruntersausende Beil schwer genug ist, wird es gelingen. Können wir es an Leichen ausprobieren?«

Am nächsten Tag benachrichtigte Charles Doktor Guillotin, der sofort vorbeikam und sich die Skizze erklären liess. Mit beinahe kindlicher Begeisterung begutachtete er den Entwurf. »Was glauben Sie, Bürger Sanson, hat der abgetrennte Kopf noch ein Bewusstsein? Kann ein enthaupteter Körper noch Schmerz empfinden?«

»Für den Bruchteil einer Sekunde ist der Schmerz so gross, dass der Verurteilte das Bewusstsein verliert. Der enorme Blutverlust tut ein Übriges.«

»Und die Maschine wird funktionieren?« Guillotin wollte sich nicht blamieren.

»Ja. Sie hat vor zweihundert Jahren funktioniert, und sie wird auch jetzt funktionieren. Ich las, dass sogar unter Julius Cäsar eine ähnliche Maschine Verwendung fand.«

»Wird sie wirklich funktionieren?«

»Wir werden sie zuerst an Schafen ausprobieren.«

Wenig später präsentierte Doktor Guillotin der Nationalversammlung die Maschine. Er lobte die Vorzüge und betonte, dass man damit dem Postulat nach Gleichheit und Humanität sehr nahe komme. Die Maschine sei ein Akt der Humanität. Sie erfülle die Forderung der Revolution, wonach jeder Mensch von Geburt an gleich sei. Jeder sterbe auf die gleiche Art und Weise, und keiner habe lange zu leiden. »Der Verurteilte spürt nur eine leichte Frische um den Hals, bevor ihm der Kopf von den Schultern hinuntertanzt«, sagte er. »Der Mechanismus wirkt wie ein Blitz, der Kopf rollt, das Blut sprudelt, der Mensch ist nicht mehr.« Die Versammlung brach angesichts dieser Wortwahl in schallendes Gelächter aus. Es wurde verfügt, dass Doktor Louis, Professor der Chirurgie und Leibarzt des Königs, ein Gutachten verfassen sollte. Dem anschliessenden Plädoyer eines jungen Anwalts hörte kaum noch jemand zu. Sein Name war Robespierre. Er plädierte gegen die Todesstrafe, weil sie ungerecht und ein Überbleibsel eines barbarischen Feudalsystems sei.

Gabriel spielte Klavier, während Charles und Desmorets das Inventar der Habseligkeiten der am Vorabend Gehängten erstellten. Auffallend war, dass in letzter Zeit die Haare und Bärte der Verurteilten länger geworden waren. Barre schnitt sie ihnen jeweils in der Conciergerie ab und legte sie zu Hause in eine grosse Kiste, die am Monatsende einem Perückenmacher übergeben wurde. Der Erlös ging an Armenhäuser, Spitäler und sonstige Bedürftige.

»Die Haare sind länger, und trotzdem kommt nicht mehr so viel Geld rein«, stellte Desmorets fest.

»Perücken kommen aus der Mode«, sinnierte Charles.

»Der Hof verliert an Bedeutung. Den wahrhaften Revolutionär erkennt man daran, dass er auf jeglichen Pomp verzichtet. Wie die beiden amerikanischen Diplomaten in ihren schlichten schwarzen Anzügen.«

Plötzlich klopfte jemand gegen die Fensterscheibe. Desmorets ging hinaus. Wenig später kam er in Begleitung von Dan-Mali zurück.

»Ich mach mal allein weiter«, sagte er und setzte sich wieder auf seinen Schemel.

Charles führte Dan-Mali in die Pharmacie. »Ist die Wunde jetzt trocken?«, fragte er.

»Ich bin nicht deswegen hier«, sagte Dan-Mali. Sie wirkte sehr ernst. »Ich wollte dich sehen. Darf ich mich hinlegen?«

Ohne seine Antwort abzuwarten, legte sie sich auf das Bett unter dem Büchergestell. Sie tat es etwas umständlich, als würden ihr bestimmte Bewegungen Schmerzen verursachen. Sie gab Charles ein Zeichen, sich ebenfalls hinzulegen, umfasste seine Hand und schloss die Augen. »Nicht sprechen«, flüsterte sie. So lagen sie eine ganze Weile Hand in Hand auf dem Bett.

Plötzlich hielt ein Wagen vor dem Haus. Charles dachte sofort an Marie-Anne, doch die Geräusche auf dem Pflaster waren ihm nicht vertraut. Er stand auf und schaute nach. Es war eine Kutsche mit den Insignien des Königs. Barre klopfte an die Tür und rief: »Draussen wartet jemand in einer Kutsche, Monsieur de Paris.«

»Bring ihn rein«, rief Charles durch die Tür.

»Er will nicht«, entgegnete Barre, »er sagt, er hole Sie ab. Sie hätten eine Einladung von Doktor Louis.«

Charles ging hinaus. In der Kutsche sass Guillotin. Er schien seltsam nervös und unruhig. »Steigen Sie ein«, sagte er, »wir haben eine Einladung von Doktor Louis in sein Kabinett in den Tuilerien. Er will unseren neuen Entwurf begutachten.«

Dan-Mali war hinter Charles auf die Strasse getreten. »Ich komme wieder«, sagte sie leise und ging schnellen Schrittes davon.

Der Tuilerienpalast war mittlerweile der Wohnort der dort festgesetzten königlichen Familie. Ein Diener in blauer Livree geleitete die Gäste durch die riesigen Säle und Vorhallen. Jeglicher Glanz war verblasst. Der Palast wirkte wie ausgestorben. Nie hatte Charles das baldige Ende der Monarchie stärker gespürt als in diesen menschenleeren Sälen. Das Kabinett des Doktors war hingegen reich dekoriert und mit Möbeln aus edlem Holz eingerichtet. Hier wurden Möbel und Teppiche noch gereinigt und gepflegt. Louis und Guillotin begrüssten sich höflich.

»Und jetzt wünsche ich, die neue Skizze zu sehen«, sagte Louis.

Guillotin legte sie auf den Tisch.

Louis beugte sich vor. »Die Anmerkungen sind von wem?«

»Vom Bürger Sanson, Vollstrecker der Strafurteile zu Paris.«

Louis warf Charles einen kurzen Blick zu und widmete sich wieder der Skizze. Er liess sich Zeit, viel Zeit. Plötzlich vernahm Charles ein feines Geräusch. Er drehte sich um und sah, wie sich eine kaum sichtbare Tür in der Wand öffnete. Louis erhob sich sofort, während ein Mann durch die Tapetentür trat. Seine Erscheinung war imposant. Er bewegte sich langsam und mit Selbstsicherheit auf den Tisch zu und nahm die Skizze. Er legte den Kopf etwas zur Seite und schürzte die Lippen, würdigte aber weder Charles noch Guillotin eines Blickes.